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467 vor allem Bildende Kunst, Belletristik, Historienfi lme, Gedenkreden, Geschichtspolitik, Living history etc.). Geschichtskultur erzeugt neue Perspektiven auf Vergangenheit und macht neue Sinnbildungsangebote […]. Aber auch Lügen und Legenden (Mythos) gehören zur Geschichtskultur. Neben die wissenschaftliche Rationalität tritt gleichberechtigt die Sinnlichkeit historischer Erfahrung. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht fühlten sich bisher kaum für diese nicht-wissenschaftsförmigen Geschichtsverarbeitungen zuständig, obwohl Schülerinnen und Schüler nach ihrer Schulzeit noch mindestens 60 Jahre ihrer Lebenszeit von stets neuen geschichtskulturellen Aktivitäten und Produkten umgeben sind. Deren Eigenart ist, dass sie ihre Modernität dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie sich nicht in den traditionellen Formen und Stilen bewegen. […] Erst in der Geschichtskultur ihrer Gegenwart offenbart sich das Geschichtsbewusstsein der Schülerinnen und Schüler. […] Geschichtskultur hat es nicht zu allen Zeiten ge geben. Da der Begriff den Kollektivsingular1 „Geschichte“ voraussetzt, der bekanntlich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufkam, ist Geschichtskultur ein Phänomen der Moderne. Eine „historische Geschichtskultur“ (19. und 20. Jahrhundert) ist didaktisch gesehen unerheblich. Ihr Inhalt besteht meist aus kulturgeschichtlichen Kleinigkeiten, die […] für heutige Schüler irrelevant sind („Wann hat welcher bayerische Ludwig welche Bilder malen lassen?“). Die Übertragung des Begriffs Geschichtskultur auf Vergangenheit ist zudem methodo logisch unsauber. Die geschichtskulturellen Vergegenständlichungen der Vergangenheit („Kinderbücher der DDR“) haben längst als Quellen (Texte, Bilder etc.) in den Geschichtsunterricht Eingang gefunden. Geschichtstheoretisch gesehen sind die Hervorbringungen der gegenwärtigen Geschichtskultur sinnbildende Darstellungen, die der „historischen Geschichtskultur“ dagegen Quellen. Hans-Jürgen Pandel, Geschichtskultur, in: Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.), Wörterbuch Geschichtsdidaktik, 2. überarb. und erw. Aufl age, Schwalbach/Ts. 2009, S. 80 f. und 86 f. (sprachlich vereinfacht) 1. Geben Sie mit eigenen Worten wieder, was unter Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur verstanden wird. 2. „Geschichtsunterricht hat heute die Aufgabe, Schülerinnen und Schülern zu helfen, ihr eigenes Geschichtsbewusstsein zu entwickeln und zu gesellschaftlichen Zumutungen Distanz zu erhalten.“ (Zeile 37 ff.). Diskutieren 1 Kollektivsingular: Bezeichnung für einen Gesamt-(kollektiven)Begriff, der in der Einzahl (Singular) steht, hier also die Geschichte für alle Geschichten der gesamten Vergangenheit 50 55 60 65 70 75 80 Sie diese Aussage und nehmen Sie Stellung dazu, auf welche Weise dieser Anspruch umgesetzt werden kann. 3. Erörtern Sie, inwiefern jeder Mensch eigene Vorstellungen von Geschichte haben kann und inwiefern diese Vorstellungen von der Geschichtskultur seiner Gesellschaft geprägt werden. 4. Suchen und erörtern Sie Beispiele für Geschichtskultur zum Thema Nationalsozialismus. Beur teilen Sie Aussagewert und Wirkung. M2 Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis Die Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann haben in den 1980er-Jahren die Theorie des kulturellen Gedächtnisses entwickelt. Es ist neben dem kommunikativem Gedächtnis Teil des kollektiven Gedächtnisses, das die Gedächtnisleistung einer Gruppe von Menschen beschreibt. Die Kulturwissenschaft lerin Astrid Erll fasst die Theorien des Assman’schen Konzeptes in einem Handbuch zusammen: • Das kommunikative Gedächtnis entsteht durch Alltagsinteraktion, hat die Geschichtserfahrungen der Zeitgenossen zum Inhalt und bezieht sich daher immer nur auf einen begrenzten, „mitwandernden“ Zeithorizont von ca. 80 bis 100 Jahren. Die Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses sind veränderlich und erfahren keine feste Bedeutungszuschreibung. Jeder gilt hier als gleich kompetent, die gemeinsame Vergangenheit zu erinnern und zu deuten. Das kommunikative Gedächtnis gehört laut Jan Assmann zum Gegenstandsbereich der Oral History. Es dient Jan und Aleida Assmann als Oppositionsbegriff und Abgrenzungsfolie zum kulturellen Gedächtnis, welches den eigentlichen Fokus ihrer Forschung darstellt. • Bei dem kulturellen Gedächtnis handelt es sich hingegen um eine an feste Objektivationen gebundene, hochgradig gestiftete und zeremonialisierte, v. a. in der kulturellen Zeitdimension des Festes vergegenwärtigte Erinnerung. Das kulturelle Gedächtnis transportiert einen festen Bestand an Inhalten und Sinnstiftungen, zu deren Kontinuierung und Interpretation Spezialisten ausgebildet werden (z. B. Priester, Schamanen oder Archivare). Sein Gegenstand sind mythische, als die Gemeinschaft fundierend interpretierte Ereignisse einer fernen Vergangenheit (wie etwa der Auszug aus Ägypten oder der Kampf um Troja). Zwischen der im Rahmen des kommunikativen und der im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses erinnerten Zeit klafft also eine Lücke – oder in den Worten des Ethnologen Jan Vansina: ein mitwanderndes fl oating gap1. 1 fl oating gap: fl ießende Lücke 5 10 15 20 25 32015_1_1_2015_Kap4_442-469.indd 467 01.04.15 11:04 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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