Volltext anzeigen | |
111Umgang mit Texten und Medien Berlin – Aspekte einer Metropole 80 85 90 95 uns als West-Berliner kaum zu ertragen, plötzlich „Wessis“ genannt zu werden, wo doch unser Leben lang andere die Wessis gewesen waren. „Wessis“ waren in unserem Sprachgebrauch Leute aus Wessiland, und Berlin, auch West-Berlin, lag mitten im Osten Deutschlands. Geografisch, landschaftlich und architektonisch. Die Neuzugänge aus dem Wessiland dominierten das Gelände, und in meiner von Skepsis zerfressenen Wahrnehmung taten sie dabei so, als würden sie hier alles neu erfinden. Sie übernahmen auch die Stadtmagazine und die Lokalpresse und schrieben nur noch über ihre eigenen neuen Spielplätze im Osten der Stadt. West-Berlin fühlte sich wie das erstgeborene Kind, dem ein frisches, entzückend brüllendes Geschwisterchen die Show stiehlt, indem es einfach in die Windeln kackt. Ich brauchte überhaupt kein neues Berlin, mein altes Berlin funktionierte noch sehr gut. Nur ganz langsam gewöhnte ich mich überhaupt an den Gedanken, den Osten in meine alltäglichen Bewegungen durch die Stadt mit einzubeziehen. Um von Kreuzberg nach Wedding zu kommen, zum Beispiel, fuhr ich noch lange auf den vertrauten Wegen um Mitte herum, bis mich bei irgendeiner Gelegenheit eine – natürlich westdeutsche – Kommilitonin4 darauf aufmerksam machte, dass ich einen Umweg nahm. An den einst bizarren Geisterbahnhöfen der U-BahnLinien 6 und 8 hielten jetzt die Züge. Man konnte dort einfach zum Spaß ausund wieder einsteigen, sogar an der Station mit dem fast schon karikaturistischsozialistischen Namen „Stadion der Weltjugend“. […] Das Stadion der Weltjugend wird 1950 anlässlich des ersten „Deutschlandtreffens der Jugend“ im Ost-Berliner Bezirk Mitte errichtet, wo es das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Polizeistadion ersetzt und zu nächst Walter-Ulbricht-Stadion heißt. Für die 10. Weltfestspiele der DDR wird es 1973 abermals umgebaut und bekommt nun den Namen „Stadion der Weltjugend“. Auch der angrenzende U-Bahnhof wird umbenannt, was allerdings nur für die West-Berliner Bevölkerung sichtbar ist, da der obere Zugang zur U-Bahn-Station verschlossen und kaum sichtbar ist, wäh rend von unten die West-Berliner Passagiere den Bahnhof ohne Halt durchfahren. 1992 wird das Stadion der Weltjugend abgerissen. 4 die Kommilitonin: die Mitstudentin 5 10 15 N u r zu P rü fz w e c k n E ig tu d e s C .C . B u c h n e r V e rl a g s | |
![]() « | ![]() » |
» Zur Flash-Version des Livebooks |