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115Umgang mit Texten und Medien Berlin – Aspekte einer Metropole Sie fühlt nach dem Zettel in der Tasche, den sie für alle Fälle eingesteckt hat. Als Eintrittskarte sozusagen. Auf dem vergilbten Papier steht blau gedruckt: „Passierschein: Genosse/Genossin … ist berechtigt, … Paket aus unserem Hause zu nehmen. Datum … Unterschrift … Stempel.“ Da hat sie sich selbst als Genossin Elsa Jonass eingetragen, mit dem Datum von heute und dem Stempel ihres vor Jahren geschlossenen Fotostudios. Den Passierschein hat sie Bernhard abgeluchst1, als dieses Haus noch sein Arbeitsplatz war, während man zwischen sie und das Haus ihrer Kindheit eine Mauer gebaut hatte. Und als diese Mauer weg war, hat Bernhard um das Haus lange einen großen Bogen gemacht. Aber jetzt ist es wieder offen, offen für sie beide, und diese Party hier, auch wenn es die Gastgeber nicht wissen, ist die Geburtstagsparty für ihn und sie und ihr Haus. Bernhard muss einfach kommen! „Nicht einschlafen“, sagt hinter ihr eine Stimme. Elsa macht einen großen Schritt, verliert fast das Gleichgewicht. Die neuen Schuhe haben Absätze, wie sie seit Jahrzehnten keine mehr getragen hat. Für die letzte Party des Lebens kann man noch einmal Schlange stehen, auch wenn die Füße schmerzen. Den Stock hat sie zu Hause gelassen. Auch ihre alte Kamera hat sie wieder aus der Tasche genommen und stattdessen Bleistift und Papier eingesteckt. Sie kann ja, nach jahrelanger Übung, jetzt wieder mit ein paar Strichen festhalten, was sie erinnern möchte. Als die Digitalkameras kamen, hat sie wie früher zu zeichnen begonnen. Sie muss kein Geld mehr verdienen mit der Knipserei. Neben ihr steht eine junge Frau. Sie trägt Hosen und darüber eine Art Kleid. „Haben Sie vielleicht noch eine Einladung übrig?“, fragt Elsa. „Für die Einweihungsfeier?“ Einen Moment schaut die Frau sie fragend an. Ein Auge ist halb verdeckt, der Pony verläuft schräg über die Stirn. „Ach, Sie meinen die Club Opening Night?“, sagt sie, und Elsa nickt. „Nein, ich hab leider nur eine Karte.“ Richtig, das Kaufhaus ist jetzt ein Club. Aber man muss es „Klabb“ aussprechen wie die junge Frau. Auch das Haus hat, wie Elsa selbst, oft den Namen gewechselt. Kaufhaus Jonass, Reichs jugendführung, Haus der Einheit, jetzt eben Soho House Berlin. Die Namen kamen und gingen mit den wechselnden Besitzern und Machthabern. Selbst die Straße, in der dieses Haus stand, hieß immer wieder anders, Torstraße, Lothringer Straße, Wilhelm-Pieck-Straße und nun wieder Torstraße. „Soho House Berlin“ ist auf die breite Häuserfront projiziert, in bunten Lichtern; die Buchstaben flackern, biegen und verzerren sich, tanzen und stürzen wie in einem Anfall von Schwindel 35 40 45 50 55 60 65 70 1 abluchsen: durch Überredung von jemandem erhalten N u r zu P rü fz w e c k e n E ig n tu m d e s C .C . B u c n e r V e rl a g s | |
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