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Überwindung des religiösen Glaubens? 185 Nietzsche und Gott Gott ist nur eine Illusion Anna: Herr Freud, Sie gehören zu den vier bekanntesten Religionskritikern. Welche Theorie vertreten Sie? Freud: Ich bin der Überzeugung, dass die Religion mit einer Kindheitsneurose und einer Illusion vergleichbar ist. Daher habe ich drei Begründungsansätze gewählt, um meine Behauptung zu beweisen. Anna: Dann legen Sie doch einfach los. Freud: Beginnen wir mit dem ersten Argument: In der Zeit, als es noch keine Wissenschaft gab, begannen die Menschen, die Naturerscheinungen zu personifizieren und sie zu höheren Mächten zu erheben. Auf diese Weise erfanden die Menschen Götter und damit Wesen, die ihnen Trost spenden, Schutz gewährleisten und ihr Selbstgefühl stärken sollten. Sie erschufen solche Vorstellungen, um ihre Hilflosigkeit besser zu ertragen. Diese Hilflosigkeit lässt sich sowohl in der eigenen Kindheit als auch in der des Menschengeschlechts beobachten: So wie sich das Kind nach dem Schutz seiner Eltern, eines starken Vaters sehnt, so projiziert der Mensch seine Sehnsucht in ein höhergestelltes, stärkeres Wesen. Anna: Das habe ich verstanden. Was ist Ihr nächstes Argument? Freud: Mein zweites Argument besagt, dass sich das zwiespältige Verhältnis von Kind zu Vater im Glauben der Erwachsenen fortsetzt: Ein Kind hat einerseits Angst vor der Stärke seines Vaters, andererseits bewundert es sie. Auf Gott übertragen bedeutet das: Der Mensch ist sich im Klaren darüber, dass er sich gegen M3 M4 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 1 Erklärt, wie Nietzsche zu der Auffassung gelangt, dass Gott tot ist. ➜ M1/M2 2 Interpretiert die Karikatur: Unter welchen Voraussetzungen hat Nietzsche recht, unter welchen nicht? ➜ M3 3 Stellt die unterschiedlichen Ansätze Freuds dar und zeigt dabei auf, wieso sich nach ihm Gott als Illusion entpuppt. ➜ M4 Glossar: Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche eine Übermacht nicht wehren kann und sucht daher im Gottesglauben Schutz. Kurz: Obwohl der Mensch die Götter fürchtet, vertraut er sich ihrem Schutz an. Anna: Diese Theorie leuchtet mir ebenso ein wie die erste. Nun bin ich auf Ihr drittes Argument gespannt. Freud: Dieses Argument betrifft die Stammesgeschichte: Stellen wir uns ein Männchen vor, das als Despot in der Urhorde uneingeschränkte Macht besaß. Ihm gehörten alle Weibchen, also alle Frauen und Töchter. Seine Söhne erwartete ein hartes Schicksal, wenn sie bei ihrem Vater die Eifersucht hervorriefen. Sie wurden erschlagen, kastriert oder aus der Gemeinschaft verstoßen. Der entscheidende Schritt zur Änderung dieser ersten Art von sozialer Ordnung bestand darin, dass sich die Brüder zusammenschlossen, ihren Vater gemeinsam umbrachten, um seinen Platz einzunehmen, und ihn aßen. Man kann sagen, der Urvater steht für das Urbild Gottes und das Essen des Vaters für den Versuch, sich mit Gott zu identifizieren. Anna: Dreimal haben Sie jetzt gezeigt, wie die Gottesvorstellung der Erwachsenen auf kindliches Verhalten zurückgeführt werden kann. Freud: Eigentlich eher auf Neurosen, also auf psychische Störungen, die von einem Konflikt verursacht werden. Kinder legen ihre Neurosen in der Regel ab. Ich hoffe, dass die Menschheit das ebenfalls schafft und sich nicht weiter hinter einer Illusion, dem Gottesglauben, versteckt. Der Mensch muss endlich seine Vernunft benutzen, er muss aus seinem Kindheitsstadium heraustreten, erwachsen werden und die Religion überwinden. nach Sigmund Freud, S. 431-433 und S. 323-380 A u fg a b e n Nu r z u Pr üf zw ck n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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