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Ostasien und die Welt: Wirtschaftsund Außenpolitik 241 M1 Zeitenwende in Ostasien? Der „Spiegel“-Redakteur Erich Follath spricht ein Jahr nach der „Asienkrise“ 1997 von einer Zeitenwende: Das thailändische Finanzministerium lässt Plakate kleben, auf denen die Bürger aufgefordert werden, Knöpfe an Fahrstühlen nur einmal zu drücken. Jeder zusätzliche Push kostet sieben Baht an Elektrizität (27 Pfennige) – es muss gespart werden. Die philippinische Regierung verbietet ihren Ministern Auslandsreisen. Nur wer eingeladen ist, darf losfahren – die Staatskasse hat Ebbe. Südkorea ermuntert seine Bürger zu patriotischen Goldund Juwelenspenden. Die Pretiosen sollen verkauft werden – die Politiker wollen die Landeswährung stützen. Am einfallsreichsten aber sind die Malaysier. Staatsdiener dürfen in den Kantinen nur noch ein Stück Zucker in die Teetasse werfen und sollen keinen Urlaub mehr jenseits der Landesgrenzen machen. Um die Gemüserechnung für die Gefängnisinsassen zu drücken, sind sämtliche 35 Haftanstalten angewiesen, Nutzgärten anzulegen. [...] Das asiatische Wirtschaftswunder ist zusammengekracht wie ein Kartenhaus, und die Entwicklung kam für die allermeisten Beobachter „ebenso schnell und überraschend wie seinerzeit der Zusammenbruch der Sowjetunion“ („FAZ“). Plötzlich werden die als Versager hingestellt, die noch vor Kurzem zu Modellstaaten hochstilisiert worden waren. Der Beobachter im Westen ist verblüfft: Japanische Herausforderung – war da nicht mal was? Vom Fernen Osten und seinen aufstrebenden Tigerstaaten lernen – hieß es nicht so noch vor Kurzem? Und was ist mit dem vielbeschworenen pazifischen Jahrhundert – könnte es zu Ende sein, bevor es begonnen hat? [...] Zwei Staatsmänner taten sich besonders hervor, einen speziellen „asiatischen Weg“ anzupreisen und den „dekadenten“ Westen zu belehren: der Chinese Lee Kuan Yew, 74, langjähriger Premier in Singapur und heute noch als „Seniorminister“ der mächtigste Mann hinter den Kulissen des Stadtstaats; und Malaysias bis heute sehr aktiver Ministerpräsident Mahathir Mohamad, 72, der sich gern als „Stimme des Kontinents“ feiern ließ. Beide wollten Asien modernisieren, durchaus mithilfe des Westens, aber ohne dessen „geistige Umweltverschmutzung“, was bei ihnen unabhängige Gewerkschaften ebenso einschließt wie die Fernsehnachrichten von CNN oder Sex vor der Ehe. Sie konstatierten den „Zusammenbruch der zivilen Gesellschaft“ in Europa und den USA durch die „Überbetonung der Rechte des Einzelnen auf Kosten der Gesellschaft“ (Lee). Sie glaubten daran, dass sich das Zentrum der Welt nach Jahrhunderten des westlichen „Zwischenspiels“ wieder nach dem Fernen Osten und zu dessen „Weisheit“ verlagern werde. Mahathirs Trost für Amerika und Europa: „Es ist nicht beschämend, sich einer höheren Kultur anzuvertrauen.“ Gegen Drogenmissbrauch und den Verfall der Familienstrukturen im Westen setzten die fernöstlichen Vordenker ihre „asiatischen Werte“: Disziplin, Lernwille, Leistung, vor allem aber die Bereitschaft zur Unterordnung, in der Familie sollte der Vater, im Staat der Patriarch das Sagen haben. Eine „gute Regierung“ muss nach dieser Auffassung autoritär herrschen dürfen. Sie soll daran gemessen werden, ob sie ihren Bürgern Stabilität und Aufstiegschancen verschafft, nicht an der Verwirklichung individueller Freiheitsrechte. [...] Die Wahrheit ist: Die Tigerstaaten Südkorea, Hongkong, Singapur und Taiwan verdanken ihren Fortschritt ebensowenig wie die nachrückenden Nationen Thailand, Malaysia und Indonesien irgendeinem besonderen asiatischen Geheimnis: Der Erfolg hatte mit dem Fleiß der Arbeiter, mit verbesserter Ausbildung und hohen Investitionen zu tun – wie überall auf der Welt. Das rapide Wachstum wurde durch eine Mobilisierung aller Kraftreserven auf dem Arbeitsmarkt erreicht, durch den Einsatz von unterbeschäftigten Landarbeitern in städtischen Fabriken, wie das in einem solchen Ausmaß nur in Entwicklungsländern – und nur für eine begrenzte Zeit – möglich ist: durch „Perspiration, nicht Inspiration“, wie es der amerikanische Professor Paul Krugman vom Massachusetts Institute of Technology 1994 formulierte. Der US-Ökonom gehört zu den ganz wenigen, die damals schon die Theorie von der asiatischen Einmaligkeit für einen Mythos hielten: „Es gibt auf diesem Kontinent keine Zeichen für eine höher als anderswo gestiegene Effizienz.“ Nach Fernost flossen bis vor Kurzem gigantische Kapitalströme, angezogen von Billiglöhnen, hohen Zinsen sowie der jedes Risiko minimierenden Bindung einheimischer Währungen an den Dollar. Anfang der sechziger Jahre dümpelten die Fernost-Staaten, bis auf Japan, noch im weltwirtschaftlichen Brackwasser; 30 Jahre später sprach die sonst so nüchterne Weltbank vom „ostasiatischen Wunder“. Die Tiger erreichten bis 1996 jährliche Zuwachsraten von durchschnittlich acht Prozent. Fernost wurde zur Boom-Region Nummer eins: Von 1950 bis 1997 stieg ihr Anteil am Welthandel um weit mehr als das Doppelte – von 17 auf annähernd 40 Prozent. Erich Follath, Die Zeitenwende, in: Spiegel Special Nr. 4, 1. April 1998, S. 16 f. 1. Das politische System Singapurs wird oft als ein „autoritäres System“ bezeichnet. Erklären Sie anhand des Textes, was darunter zu verstehen ist. 2. Fassen Sie zusammen, wie der Autor aus der Rückschau das sogenannte „asiatische Wirtschaftswunder“ beurteilt. Begründen Sie, inwieweit Sie die Auffassung des Autors teilen. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 N u r zu P rü fz e c k e E ig e n tu m d e s C .C . B u c h n V rl a g s | |
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