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Ein Buch und seine Wirkung 137 Emigration mit Folgen Der größte religiöse Geist, den China hervorgebracht hat, ist Lao-tzu˘ [Laotse]. Der chinesische Historiker Szu˘-ma Ch’ien kennzeichnet ihn als einen „Edlen, der in der Verborgenheit lebte“. Er war Beamter im kaiserlichen Reichsarchiv. Als er den Verfall der damaligen Dynastie sah, verließ er Amt und Heimatland. Beim Überschreiten der Grenze schrieb er, der Überlieferung nach, auf Bitten des Passwächters ein Buch von etwas mehr als fünftausend Worten, das den Titel Tao-tê-ching („Buch vom höchsten Wesen und von der Tugend“) erhielt; „dann ging er fort, und niemand weiß, wo er geendet“. Das Buch, das den starken Einfluss des Orakelwerkes I-ching zeigt, bot schon den chinesischen Interpreten große Schwierigkeiten. Es tritt jedoch in helleres Licht, wenn es mit den Dokumenten der Mystik aller Zeiten und Religionen verglichen wird. Wie alle Mystiker mahnt Lao-tzu˘ erst zur Rückkehr in das eigene Innere, zum „Verschließen der Eingänge und Ausgänge der Seele“ […], sodann zur „Begierdelosigkeit“ und „Gemütsruhe“, zum „Abnehmen“, „Schwachwerden“, zum „Stillsitzen“ bis zum völligen „Nichttun“ (wu-wei) – ein Terminus, den Lao-tzu˘ der älteren Überlieferung entnommen hat […] – also zu jenem mystischen Prozess des „Entwerdens“, der dazu führt, „wie ein neugeborenes Kind zu werden“ […]. Diese völlige „Entselbstung“ führt aber zur „vollkommenen Selbstbehauptung“ […] in der Erkenntnis des Tao. Friedrich Heiler, S. 76 Die Lebenskunst des Tao Wer im Tao verweilt, weiß, dass er Herausforderungen des Lebens, seinen Nöten und Problemen nicht mehr mit Kampf, mit Macht oder Anstrengung antworten muss. Noch braucht er sich den Kopf zu zerbrechen, wie die Dinge zu lösen sind. […] Er grübelt nicht an Problemen herum. Er denkt, wenn er für seine Verrichtungen Wissen benötigt. Ansonsten lässt er Gedanken kommen und gehen, wie sie auftreten, ohne sich mit ihnen zu befassen oder sie festhalten zu wollen. Er gestattet ihnen nicht, dass sie sich bei ihm einnisten und wie früher breitmachen. Er ist wie M2 M3 5 10 5 10 15 20 25 15 20 25 30 35 40 1 Erarbeite das Gedicht, indem du entweder einen Bericht aus der Sicht des Zöllners über die Begegnung mit Laotse schreibst oder mit dem Zöllner ein fiktives Interview für die Schülerzeitung führst. ➜ M1 2 Diskutiert, wie sich die Wirkung des Tao-tê-ching bis in die heutige Zeit erklären lässt (s. auch S. 134, M1). ➜ M2 3 Veranschauliche die Lebenskunst des Tao durch Beispiele. ➜ M3 4 Vergleiche die taoistische Lebensauffassung mit der westlichen. ➜ M1-M3 Glossar: mystisch, Orakel, Tugend der Herbstwind, wenn er die braunen Blätter bewegt. Er berührt sie, aber nimmt sie nicht weit mit. […] An die Stelle der ewig plappernder Gedanken ist Aufmerk samkeit getreten. Er ist hellwach, ihm entgeht keine kleinste Kleinigkeit des Alltags. […] Der Mensch des Tao kennt keine Ungeduld. […] Er wartet auf nichts. Was geschieht, geschieht, und dieses nimmt er an. So wie der Kirschbaum im Frühling blüht und im Hochsommer die Früchte hervorbringt und darum aber nicht von Frühjahr bis Sommer wartet, bis endlich die Kirschen reif sind, sondern einfach da ist, existiert, so lebt der Mensch des Tao von einem Tag zum anderen. […] Er hat keine Sorgen. Die Vergangenheit mit ihren Fehlern und Unzulänglichkeiten ist vorbei, sie exis tiert nicht mehr, und niemals kramt der Mensch des Tao in seinen Erinnerungen und holt den alten Plunder hervor. Was er an schwerwiegenden Dingen früher getan hat, zu dem steht er, identifiziert sich ohne Furcht da mit, besieht sich die begangenen Fehler. Aber damit hat es sich. Er zerquält sich nicht andauernd und reibt sich auf mit Selbstvorwürfen und nutzloser Reue. Probleme erkennt er im Ansatz und wendet ihnen so fort, ohne zu zögern, seine volle Aufmerksamkeit zu, besieht sie sich gründlich. Dann wendet er sich dem Tagesgeschehen zu und vergisst die Probleme wieder. Die durch ihn wirkende, grenzenlose Intelligenz findet die Lösung für ihn weitaus rascher und besser, als sein eigener begrenzter Intellekt es schaffen könnte. Auf diese Weise gelangen die Dinge von ganz alleine in Bewegung. Theo Fischer, S. 46-48 A u fg a b e n Experteng Nu r z u Pr üf z ck n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn r V er la gs | |
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