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229Geschichte erzählt Eigentlich war Jane erschöpft und todmüde. Sie wünschte sich, möglichst rasch einschlafen zu können. Doch es ging nicht. Nicht nur, weil ihr Arme und Beine wehtaten, sondern auch, weil ihr so viele Gedanken durch den Kopf schossen. Sie hatte das Gefühl, an diesem einzigen Tag, der nun hinter ihr lag, mehr erlebt zu haben als in ihrem ganzen bisherigen Leben. Sie glaubte, noch immer das Dröhnen und Quietschen der Maschinen zu hören und noch immer zu spüren, wie ihr Körper vom dumpfen Geräusch der mechanischen Anlagen bebte. Hier war alles so anders, als sie es gewohnt war. Bisher hatte sie zu Hause Vater und Mutter in der Webstube, im Stall und auf dem Acker geholfen. Nur ganz selten war sie aus ihrem Dorf herausgekommen. Und als vor wenigen Jahren zehn Meilen entfernt eine Fabrik errichtet worden war, hatte sie nie daran gedacht, dort einmal arbeiten zu müssen. Als sie heute im Morgengrauen mit ihrem großen Bruder John beim Läuten der Glocke durch das Fabriktor gegangen war, überfi el sie das Gefühl, von einem Augenblick zum anderen in eine fremde und beängstigend neue Welt verschlagen worden zu sein. Die Fabrikhalle war so hoch und weit wie kein anderes Gebäude, das sie jemals vorher betreten hatte. Dagegen erschien ihr selbst die Kirche in ihrem Dorf wie ein kleiner Schuppen. So viele Menschen wie hier hatte sie noch nie auf einem Haufen arbeiten gesehen. Noch ungewohnter als alles andere waren jedoch die dröhnenden Geräusche der Maschinen, das Gemisch aus Dampf, Rauch und Staub und der durch dringende, beißende Gestank. Doch sie hatte nicht viel Zeit, über all das zu staunen, denn gleich nach ihrer Ankunft hatte der Vorarbeiter sie an ihren Arbeitsplatz gestellt, wo sie mit nur kurzen Pausen bis zum Abend die immer gleichen Handgriffe zu er ledigen hatte. Nicht sie, sondern die Maschine bestimmte ihren Arbeitsrhythmus. Und obwohl sie bisher immer hart mitgearbeitet hatte, war dieser erste Tag in der Fabrik eintöniger und anstrengender als alle Arbeitstage zuvor. Elf Stunden hatte sie an den Maschinen stehen müssen. Allein das war eine kaum erträgliche Qual für ihren Körper. Aber noch etwas anderes bedrückte sie: Neben den gewaltigen Werkzeugen, die weder von Menschen noch von Tieren, sondern von Dampf angetrieben wurden, kam sie sich so winzig und hilfl os vor. Aber was half es? Sie brauchte Arbeit. Von irgendetwas musste sie leben. Wenn sie an den ersten Zahltag in sechs Tagen dachte, schöpfte sie Hoffnung: Vielleicht war die ganze Mühe ja doch ein Lichtblick für ihre Familie. Jane sah auf ihren schlafenden Bruder. Sie spürte, dass ihr Strohsack endlich warm geworden war. Allmählich und fast unmerklich übermannte sie der Schlaf. Dieter Brückner Erschöpft und todmüde 4492_1_1_2013_228_249.indd 229 28.02.13 15:08 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C .B ne r V er la g | |
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