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231 Wie geht es weiter? Wird es Joe gelingen, Mr. Mosleys Haus zu verlassen? Und wo wird er hingehen? Kann er seine Bande wiederfi nden oder muss er sich in der immer größer werdenden Industriestadt Manchester allein durchschlagen? Seiner Meinung nach werden Unmengen von Problemen auf einen Schlag gelöst, wenn man die Armen dazu bringt, keine Kinder mehr zu kriegen. Keine Ahnung, wie er das erreichen will. „Wenn man Kinder hat“, sage ich, verdienen sie Geld für einen. Und man hat jemanden, der sich um einen kümmert, wenn man alt ist.“ „Stimmt“, sagt der Hagere und mustert mich mit seinen verkniffenen Augen. „Aber was, wenn man sie nicht ernähren kann? Und wofür wird das Geld ausgegeben, hm? Für Essen oder für Saufgelage?“ Es folgt eine kurze Diskussion über die Gefahren des Trinkens, dass es zu Aufruhr führt, und ob man die Ginstuben nicht besser schließen sollte. „Dann würde es eine ganze Menge Aufruhr geben“, mische ich mich ein und sie sehen mich wieder an. Offenbar soll ich noch mehr sagen. „Zum Beispiel die Männer, die fünf Shilling in der Woche verdienen“, sage ich, „und in den Baracken am Fluss wohnen. Was haben die denn, außer ihrem Gin? Was soll man von fünf Shilling schon groß kaufen?“, sage ich und beginne mich so langsam für das Thema zu erwärmen. „Vier Laib Brot? Oder sie bezahlen die Miete und kaufen zwei Laib Brot. Aber ich glaube eher, dass sie sich Brot und Miete sparen und nur den Gin kaufen.“ „Genau so ist es“, sagt der Hagere, als ob ich gerade bewiesen hätte, dass er Recht hat – was gar nicht der Fall ist. „Aber wenn man ihnen den Gin wegnimmt“, sage ich, „was bleibt ihnen dann noch? Stocknüchtern merken sie doch bloß, wie arm sie sind.“ Der Hagere beißt sich auf die Lippen und Mr M. blickt mich mit leuchtenden Augen an. „Ich hätte nicht erwartet, dass du ein radikaler Philosoph bist, Nat.“ „Was ist denn so was?“, frage ich und beide lachen, irgendwie erleichtert, so kommt es mir jedenfalls vor. Ich habe genug von ihnen und bin froh, als sie gehen. Aber allmählich geht es mir besser. […] Und ich schaue aus dem Fenster, auf die Mosley Street, wie mir gesagt wurde, benannt nach keinem Geringeren als Mr Mosley und seiner Familie. Es ist eine breite Straße, auf der den ganzen Tag lang vornehme Kutschen hin und her fahren. Nachts patrouillieren hier die uniformierten Heuschrecken – ganze Schwärme, nicht nur einer. Was mir komisch vorkommt, denn in den Straßen am Fluss, in den Mietskasernen oder in den Hinterhöfen von Angel Meadow lässt sich nie auch nur einer von ihnen blicken. Hier aber, wo es überhaupt keine Probleme gibt, sind sie gleich scharenweise unterwegs, um die Reichen vor den Armen zu beschützen. […] Eines Tages kommen zwei Herren zu Besuch: Der eine ist groß, dünn und blass, der andere dick und rotgesichtig, mit schwarzen Augen. […] „Das nenne ich Geisteshaltung, Mosley … Die städtischen Armen zu päppeln, was? Haha!“ „Mehr Überwachung, das ist es, was sie brauchen. Mehr von diesen Burschen in Blau, hahaha!“ […] Kaum sind sie zur Tür hinaus, stehe ich auf, um mir die Beine zu vertreten. Ich höre, wie sie sich draußen im Gang in gedämpftem Tonfall unterhalten. „Was haben Sie denn vor, Mosley? Wollen Sie den Burschen etwa adoptieren?“ Ich spitze die Ohren und schleiche näher zu Tür. „Keineswegs“, sagt Mr M. „Es geht mir lediglich darum, über einige Dinge Gewissheit zu erlangen.“ „Eine Studie, was? Nun, seien Sie vorsichtig.“ Und er fügt etwas hinzu, was ich nicht verstehen kann, und schließt mit den Worten: „Man kann den Jungen aus dem Armenhaus holen, aber kann man das Armenhaus aus dem Jungen holen? Nichts für ungut, Mosley, hahaha!“ Livi Michael: Die fl üsternde Straße. Carlsen, Hamburg 2005. Das Buch enthält ein Nachwort der Autorin. N u r zu P rü fz w e k e n E ig e n tu m d e s C .C . B u c h n e r V rl a g s | |
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