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Mein Vater verbrachte seine Kindheit in einer wunderbar facettenreichen Welt. An der Spitze der Gesellschaftspyramide stand der britische Gouverneur, der auf einem weißen Ross einherritt. Er residierte in einem Gebäude auf dem „Hügel des Bösen Rats“, wo zur Zeit Jesu der Hohepriester seinen Amtssitz gehabt hatte. Als Nächstes kamen die in edle Gewänder gehüllten Würdenträger der verschiedenen Religionen, angeführt von Hadsch Amin al-Husseini, dem Großmufti von Jerusalem und wichtigsten muslimischen Führer der Stadt, sowie verschiedene christliche Erzbischöfe und Bischöfe. Dann waren da Familien wie die unsere, die auf eine glorreiche, wenn auch bisweilen nur in ihrer Fantasie vorhandene Vergangenheit zurückblickten und deren Kinder geplättete Sakkos zu Hosen mit Bügelfalten trugen und typischerweise einen Band moderner arabischer Gedichte oder Robinson Crusoe unter den Arm geklemmt hatten. Ihre Helden waren nicht Cowboys und Indianer, sondern islamische Krieger und fränkische Kreuzritter. Unterhalb dieser Schicht der Honoratioren gab es eine wachsende Zahl Angehöriger stadttypischer Berufe wie Verwaltungsangestellte, Lehrer oder Kaufl eute. Die Basis der Pyramide bildete die Klasse der hart arbeitenden, stolzen Bauern oder Fellachen in ihren bunten, traditionellen Gewändern. Beduinen in wallenden Dschellabas führten ihre Kamele durch die Straßen, in denen es damals noch kaum Autos gab. Im Jahr 1929 kam es zu antijüdischen Ausschreitungen, nachdem einige Hundert junge Anhänger Ze’ev Jabotinskys2 (der bei Juden den Beinamen „unser Duce“3 trug), zur Al-Burak4 marschiert waren, um dort lauthals „Die Mauer gehört uns!“ zu skandieren. Unter wehenden Fahnen sangen die Anhänger Jabotinskys die Hatikva, die jüdische Nationalhymne. […] Unter den Muslimen verbreitete sich das Gerücht, die Juden wollten den Tempelberg, auf dem einst der Salomontempel gestanden hatte, unter ihre Kontrolle bringen. Der Mufti heizte die Stimmung weiter an. Am nächsten Tag stürmten Muslime mit dem Ruf „Islamia!“ das Gelände vor der Klagemauer und zerrissen jüdische Gebetsbücher. Ein jüdischer Junge wurde nach einem Streit bei einem Fußballspiel erstochen. In Hebron wurden vierundsechzig Juden ermordet, sämtlich Angehörige einer alteingesessenen religiösen Gemeinschaft, die immer in Frieden mit ihren Nachbarn gelebt und mit dem weltlichen Nationalismus der russischen Juden nichts zu tun hatte. Doch die aufgebrachte Menge, angestachelt durch einen wahnhaften, primitiven Nationalismus, unterschied nicht mehr zwischen Juden und Zionisten. Die Welt bestand nur noch aus Schwarz und Weiß: sie gegen uns. Ein Verhängnis und ein Vorbote. Sari Nusseibeh, Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina, München 2008, S. 30 f. und 34 f. 1. Erläutern Sie, wie Nusseibeh das Verhältnis zwischen Arabern, Briten und Juden in Palästina schildert. Welche Erklärungen führt er dafür an? 2. Begründen Sie, inwieweit es schwerfällt, das geschilderte Zusammenleben zwischen Arabern und Engländern zu verallgemeinern. 3. Nehmen Sie Stellung zu Nusseibehs Interpretation des geschilderten Zwischenfalls für das arabisch-jüdische Zusammenleben. 4. Erläutern Sie anhand von M4 bis M6, warum der Nahost-Konfl ikt als ein Produkt des Ersten Weltkrieges bezeichnet werden kann. 2 ein führender Zionist in Palästina 3 Duce: ital. „Führer“; Beiname des von 1922 bis 1943 in Italien herrschenden faschistischen Diktators Benito Mussolini (1883 1945) 4 Al-Burak: muslimische Bezeichnung der Klagemauer 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 i Britische Soldaten versuchen, eine arabischen Revolte am Jaffator in Jerusalem unter Kontrolle zu bringen. Foto, 1920er-Jahre. Den Briten gelang es immer weniger, die verschiedenen Interessen der arabischen Einwohner und der Zionisten gegeneinander auszubalancieren. Seit 1921 kam es regelmäßig zu antibritischen und antijüdischen Unruhen in Palästina. 135Imperialismus und Nationalismus im Nahen Osten Nu r z u P üf zw ec ke n Ei g tu m d es C .C .B uc hn er V er la gs | |
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