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Mit ihren verschiedenen Fähigkeiten, die einander oft entgegengesetzt sind, dienen die Nationen dem gemeinsamen Werk der Zivilisation. Alle tragen zu dem großen Konzert der Menschheit eine Note bei, das, als Ganzes, die höchste ideale Realität ist, an die wir heranreichen. Voneinander isoliert, haben sie nur schwache Partien. […] Ich fasse zusammen. Der Mensch ist weder der Sklave seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Religion noch des Laufs der Flüsse oder der Richtung der Gebirgsketten. Eine große Ansammlung von Menschen, gesunden Geistes und warmen Herzens, erschafft ein Moralbewusstsein, welches sich eine Nation nennt. In dem Maße, wie dieses Moralbewusstsein seine Kraft beweist durch die Opfer, die der Verzicht des Einzelnen zugunsten der Gemeinschaft fordert, ist die Nation legitim, hat sie ein Recht zu existieren. Wenn sich Zweifel an ihren Grenzen erheben, dann soll die Bevölkerung befragt werden. Sie hat durchaus ein Recht auf ein Urteil darüber. Ernest Renan, Was ist eine Nation? Aus dem Französischen von Henning Ritter, in: Michael Jeismann und Henning Ritter (Hrsg.), Grenzfälle – Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993, S. 290 310, hier S. 308 310 1. Erläutern Sie, was Renan unter „Nation“ versteht. 2. Arbeiten Sie die Bezüge zur zeitgenössischen Situation nach der Annexion Elsass-Lothringens durch das Deutsche Reich heraus. 3. Begründen Sie, inwiefern Renan die Gegenposition zum deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert vertritt. M7 Das Nationalitätenproblem im Deutschen Kaiserreich August Bebel, Mitbegründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), der späteren SPD, nimmt am 30. Oktober 1889 im Deutschen Reichstag zur Annexion Elsass-Lothringens Stellung: Meine Herren, betrachten wir doch die Sachlage objektiv, betrachten wir sie in aller Kaltblütigkeit! Wir haben in ElsassLothringen nicht ganz zwei Millionen Einwohner für das Deutsche Reich gewonnen, deren Vorfahren vor Jahrhunderten Deutsche waren. Dies ist unser sogenannter Rechtstitel für die Annexion. Sie werden aber zugeben, dass, wenn wir die Theorie verfolgen wollten, dass, was einstmals zu Deutschland gehörte, wieder zu Deutschland kommen müsse, wir noch heute fortwährend zu neuen Kriegen Veranlassung hätten. Vor allen Dingen und in erster Linie hätten wir volle Ursache, die deutschen Ostseeprovinzen Russlands zu annektieren. Wir hätten weiter Ursache, noch weit größere Annexionen von Frankreich zu machen. Wir könnten noch weiter zurückgreifen und könnten die Schweiz nehmen, die einst auch zu Deutschland gehörte; ferner Holland, einen Teil von Belgien u. s. w., wo zum Teil heute noch ausgeprägt deutsche Bevölkerung ihren Sitz hat. Ja, meine Herren, wenn sie als Nationalitätentheorie ansehen und als die eigentliche Grundlage für Nationalstaaten hinstellen wollten, dass jedes Land das Recht habe, was einstmals im Laufe von Jahrhunderten und vor noch längerer Zeit zu ihm gehört hat, unter irgendwelcher Bedingung zurückzuerobern, so würde Deutschland aus dem permanenten Kriegszustande nicht herauskommen. Nun vertreten wir Sozialisten aber die Anschauung, dass Völker keine Schafherden sind, welche willenlos den Herrn wechseln müssen. Wir verlangen, dass die Völker über ihr Schicksal gefragt werden und selbst entscheiden. Die gleichen Anschauungen haben einst auch die deutschen Liberalen in Bezug auf Schleswig-Holstein und Italien, insbesondere in Bezug auf die Lombardei und Venedig in den 60erJahren gegenüber Österreich vertreten. Es sind das keine Anschauungen, welche neu sind; die Völker haben das unbestrittene Recht der Selbstbestimmung; sie sollten es wenigstens haben. Nun haben die letzten Wahlen 1886/87 gezeigt, dass die sehr große Mehrheit der Bevölkerung in Elsass-Lothringen dem Deutschen Reiche feindselig gegenübersteht. Ich untersuche nicht die Gründe, warum das so ist. Zitiert nach: Peter Alter (Hrsg.), Nationalismus. Dokumente zur Geschichte und Gegenwart eines Phänomens, München 1994, S. 205 f. 1. Arbeiten Sie Bebels Argumente heraus. Auf welche Pro bleme weist er hin? 2. Erläutern Sie seine Vorstellungen von Volk und Nation. Wie begründet er diese? 45 50 55 5 10 15 20 25 30 35 77Moderne Nationsvorstellungen seit der Französischen Revolution Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei g nt um d es C .C .B u ne r V r a gs | |
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