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2 Doryphoros, römische Kopie aus Pompeji, 1. Jh. v. Chr. Marmor, Höhe 200 cm, Nationalmuseum, Neapel Der ideale Körper hat Gegensätze, die ihn spannend machen; diese Gegensätze – rechts und links, oben und unten, vorne und hinten – aber heben sich selbst auf, denn sie sind im Gleichgewicht. Dieses Gestaltungsprinzip, der harmonische Ausgleich von Gegensätzen in einem menschlichen Körper, bezeichnet man als Kontrapost*. Die Gegensätze zwischen den Körperteilen müssen zudem in ein mathematisches System von Proportionen eingebunden sein: Zwischen Beinen, Armen, Nabel, Zehen etc. liegen einfach messbare, wenn möglich ganzzahlige Abstände. Körper und Kosmos Die Strategie, den menschlichen Körper nach diesen Prinzipien zu manipulieren, hatte für die Philosophie des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. aber eine viel umfassendere Bedeutung. Denn nicht nur der menschliche Körper, sondern die gesamte Welt – die Musik wie die Sterne – war, so meinte sie, von „idealen“ Zahlen durchzogen. So glaubte der Philosoph Pythagoras (ca. 570 510 v. Chr.), die Abstände zwischen den Planeten, der Sonne und der Erde entsprächen bestimmten Proportionen – eins zu eins, eins zu zwei, zwei zu drei etc. Dass der fi ktive Körper des Polyklet nach den Prinzipien der Harmonie, der Proportion und dem Ideal konstruiert wurde, heißt, dass sich in diesem Körper nicht nur die Idee des Menschen, sondern der Bauplan des gesamten Kosmos widerspiegelt. Vier Jahrhunderte später beschrieb der römische Architekt Vitruv (1. Jh. v. Chr.) eben dieses Prinzip, und diese Beschreibung wiederum illustrierte Leonardo da Vinci (s. S. 98, 108 f.): Der Mensch, dessen Körper einem System aus Flächen und Zahlen folgt. Jeder Künstler, der nach Polyklets Doryphoros einen Menschen zu formen versuchte, musste sich, ob er das wollte oder nicht, entscheiden, ob er Polyklets Ideal folgte – oder ob er den Menschen zeichnete, malte oder formte, wie er wirklich war. 1.1 Analysieren Sie die Regelmäßigkeit des Doryphoros-Gesichts (Abb. 1), indem Sie es in mindestens doppelter Größe naturgetreu abzeichnen. Kommentieren Sie Ihre Zeichnung anschließend in Hinblick auf die auffälligen Gesetzmäßigkeiten. 1.2 Begründen Sie die vom Autor genannte „Maskenhaftigkeit“, indem Sie die wesentlichen Aspekte einer unnatürlichen Wirkung zusammentragen. 2 Diskutieren Sie in Ihrem Kurs, welche Eigenschaften oder Kennzeichen einen „wirklichen“ Menschen charakterisieren. 3 Versuchen Sie zu ergründen, welche Bedeutung das Beharren auf Reglmäßigkeit und harmonische Proportionen, das sogenannte Polyklet-Ideal, haben könnte. N u r zu P rü fz w e c k e n E ig n u d e s C .C .B u c h n e r V e rl a g s | |
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