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15Die Krise der Demokratie in Frankreich und Großbritannien M1 Was ist Faschismus? Der Faschismus-Begriff wird diskutiert, seitdem es ihn gibt. Über eine passende Defi nition und über die Frage, ob ein allgemeiner Faschismusbegriff angesichts der verschiedenartigen Ideologien überhaupt möglich ist, sind sich die Historiker bis heute nicht einig. Einige Defi nitionsversuche werden im Folgenden vorgestellt. a) Der Historiker Ernst Nolte prägt Anfang der 1960er-Jahre einen Gattungsbegriff des Faschismus, aus dem er in seinen späteren Werken eine Art „faschistisches Minimum“ entwickelt. Er beschränkt den europäischen Faschismus auf wesent liche Elemente: Weder der Antiparlamentarismus noch der Antisemitismus ist geeignet, das Kriterium des Begriffs Faschismus zu bilden. Ganz unpräzis wäre nicht minder eine Kennzeichnung als Antikommunismus, offenkundig irreführend aber wäre eine Defi nition, die dieses fundamentale Merkmal nicht genügend betonte oder gar ganz fortließe. Aber auch der identifi zierenden Auffassung muss ihr Recht widerfahren. Daher liegt es nahe zu sagen: Faschismus ist Antimarxismus, der den Gegner durch die Ausbildung einer radikal entgegengesetzten und doch benachbarten Ideologie und die Anwendung von nahezu identischen und doch charakteristisch umgeprägten Methoden zu vernichten trachtet, stets aber im undurchbrechbaren Rahmen nationaler Selbstbehauptung und Autonomie. Diese Wesensbestimmung impliziert: dass es ohne Marxismus keinen Faschismus gibt, dass der Faschismus dem Kommunismus zugleich ferner und näher ist als der liberale Antikommunismus, dass er notwendig mindestens die Tendenz zu einer radikalen Ideologie aufweist, dass überall da von Faschismus nicht gesprochen werden sollte, wo nicht wenigstens Ansätze zu einer der „marxistischen“ vergleichbaren Organisation und Propaganda vorhanden sind. b) Der Amerikaner Stanley Payne, einer der bedeutendsten Faschismusforscher unserer Zeit, hat sich in seiner Faschismusdefi nition auf Nolte berufen und in seinem Werk „A History of Fascism 1914 45“ Mitte der 1990er-Jahre folgende Kennzeichen herausgearbeitet: A. Ideologie und Ziele: […] Errichtung eines neuen nationalistisch autoritären Staats, der nicht auf traditionellen Prinzipien oder Modellen beruht; Organisierung einer neuen intensiv geregelten, sich auf mehrere Klassen stützenden, integrierten nationalen Wirtschaftsstruktur, […]; positive Bewertung von Gewalt und Krieg sowie deren Einsatz oder die Bereitschaft dazu; Anstreben eines Kolonialreichs, einer Expansion oder eines radikalen Wandels in den Beziehungen der Nation zu anderen Mächten. B. Die faschistischen Negationen: Antiliberalismus; Antikommunismus; Antikonservatismus […]. C. Stil und Organisation: Versuch einer Massenmobilisierung, zugleich Militarisierung der politischen Beziehungen und des politischen Stils, Ziel einer Parteimiliz als Massenorganisation; Betonung der ästhetischen Struktur von Versammlungen, Symbolen und politischer Liturgie, […]; extreme Betonung des maskulinen Prinzips und männlicher Herrschaft […]; Verherrlichung der Jugend, […], spezifi sche Neigung zu einem autoritären, charismatischen, persönlichen Stil der Befehlsgewalt, unabhängig davon, ob diese anfangs bis zu einem gewissen Grad auf Wahl beruht oder nicht. c) Im Gegensatz zu Nolte und Payne plädiert der Historiker Wolfgang Wippermann im Jahr 2009 dafür, nicht weiter zu versuchen, einen faschistischen Idealtypus zu kons truieren, sondern vielmehr von einem Realtypus auszugehen, der vom italienischen Faschismus geprägt und repräsentiert wird: Aufgrund dieser realtypischen Defi nition könnte solche Bewegungen und Regime als faschistisch bezeichnet werden, die wesentliche Gemeinsamkeiten mit dem namenund stilbildenden italienischen Faschismus aufweisen. Dies gilt für das Erscheinungsbild der faschistischen Parteien und ihren politischen Stil sowie ihre Ideologie und die Form der Machtergreifung und Machtfestigung. Dies führte zu folgender Defi nition: Faschistische Parteien waren hierarchisch nach dem Führerprinzip gegliedert, verfügten über uniformierte und bewaffnete Abteilungen und wandten einen damals neuartigen und spezifi schen politischen Stil an, wobei man auf Massenaufmärschen und -kundgebungen den jugendlichen und zugleich männlichen Charakter betonte und ihn mit pseudoreligiösen und gewaltbetonten Riten und Ritualen feierte. Im Mittelpunkt stand jedoch das Bekenntnis zur und die Ausübung von schrankenloser Gewalt gegen verschiedene und durchaus austauschbare „Feinde“. In der Regel waren dies Kommunisten und Sozialisten sowie Juden und andere rassistisch stigmatisierte Minderheiten. Diese Gewaltausübung wurde mit dem Hinweis auf eine Ideologie begründet, die mehr war als bloß verschleiernde Propaganda, sondern einen programmatischen Charakter 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d s C .C .B uc hn r V rla gs | |
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