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181Deutschland und die geteilte Welt nach 1945 Opfer und Befreier klagen an Nach 1945 muss ten sich die Deutschen der Frage nach der Verantwortung für das Geschehene stellen. Hunderttausende hatten sich schuldig gemacht, noch mehr hatten das Unrecht nicht wahrnehmen wollen. Die überlebenden Opfer und die Befreier stellten zunächst die Kollektivschuldthese auf, nach der das gesamte deutsche Volk die Schuld an den Verbrechen trage. Darauf reagierten viele Menschen mit Verdrängung der Verantwortung oder Mitverantwortung für die Verbrechen. Sie behaupteten, dem totalitären, all um fas senden Staat selbst ausgeliefert gewesen zu sein. Erst mit den Schuldbekenntnissen der beiden großen Kirchen im August und Oktober 1945 begann eine Auseinandersetzung mit der Schuldfrage. Dabei half die Erkenntnis, dass es eine juris tische Schuld eines ganzen Vol kes nicht geben kann, sehr wohl aber eine Verantwortung dafür, was Regierung und Jus tiz in seinem Namen tun. Siegerjustiz? Die Siegermächte hatten auf der Potsdamer Konferenz beschlossen, die Verantwortlichen für die NS-Verbrechen vor ein internationales Militärgericht zu bringen. Am 20. November 1945 begann in Nürnberg der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Angeklagt wurden über zwanzig hohe Parteiführer, Minister und Generäle, die gesamte NSDAP sowie die Gestapo, der SD und die SS wegen: • Verbrechen gegen den Frieden (Planung und Durchführung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung internationaler Verträge); • Kriegsverbrechen (Mord, Miss hand lung oder Depor tation von Ange hörigen der Zivilbevölkerung zur Sklavenarbeit); • Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an der Zivilbevölkerung; Verfolgungen aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen). Urteile Im Verlauf der fast einjährigen Verhandlungen erfuhr die Weltöffentlichkeit von den deutschen Gräueltaten in den besetzten Gebieten. Zwölf der Hauptangeklagten verurteilte das Gericht zum Tode, drei erhielten lebenslange Haft, vier Angeklagte mussten Haftstrafen zwischen zehn und zwanzig Jahren hinnehmen, drei wurden freigesprochen. Das Gericht erklärte die NSDAP, die SS, die Gestapo und den SD zu verbrecherischen Organisationen. Eine Strafverfolgung ihrer Mitglieder wurde von einer nachweisbaren individuellen Schuld abhängig gemacht. Keine berechtigten Zweifel Auch wenn die Urteile weitgehend begrüßt wurden, blieb Kritik nicht aus, da • die Planung eines Angriffskrieges durch das bisherige Völkerrecht noch nicht geächtet war, • nur deutsche, nicht jedoch alliierte Kriegsverbrechen abgeurteilt wurden, • die Bedeutung des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 für die Planung des deutschen Angriffskrieges auf Polen wegen des sowjetischen Einspruchs nicht berücksichtigt wurde und • Ankläger und Richter aus neutralen Ländern nicht hinzugezogen worden waren. Angesichts der Beweiskraft der vielen tausend Dokumente und Zeugenaussagen über die Verbrechen gab und gibt es aber keinen Zweifel darüber, dass die Aburteilung der Angeklagten gerechtfertigt war. Allerdings hatte der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher für viele Deutsche auch eine Entlas tungsfunktion: Sie verdrängten die Frage nach ihrer eigenen Mitverantwortung für das, was während des „Dritten Reiches“ geschehen war. Schuld und Verantwortung 1 Die Bevölkerung Weimars im Konzentrationslager Buchenwald. Foto von Margaret Bourke-White, Mitte April 1945. Amerikanische Truppen trafen am 11. April 1945 in Buchenwald ein. Sie fanden dort 21 000 Überlebende. US-General George S. Patton zwang die Bewohner Weimars, das Lager und die Opfer anzusehen. Als einige betroffene Einwohner riefen: „Wir haben das nicht gewusst! Wir haben nichts gewusst!“, schrien ihnen Ex-Häftlinge entgegen: „Ihr habt es gewusst. Wir haben neben euch in den Fabriken gearbeitet. Wir haben es euch gesagt und dabei unser Leben riskiert. Aber ihr habt nichts getan.“ Der Bürgermeister von Weimar und seine Frau begingen nach dem Gang durch das Konzentrationslager zu Hause Selbstmord. 31013_1_1_2015_164_227_kap4.indd 181 26.03.15 15:31 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d s C .C . B u hn er V rla gs | |
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