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183Mit Material arbeiten 5 10 15 20 25 5 10 15 5 10 M 1 „… nichts Unrechtes getan“? Die amerikanische Journalistin Martha Gelhorn kommt bei Kriegsende nach Europa. Im April 1945 schreibt sie: „Niemand ist ein Nazi. Niemand ist je einer gewesen. Es hat vielleicht ein paar Nazis im nächsten Dorf gegeben, und es stimmt schon, diese Stadt da, zwanzig Kilometer entfernt, war eine regelrechte Brutstätte des Nationalsozialismus. Um die Wahrheit zu sagen, ganz im Vertrauen, es hat hier eine Menge Kommunisten gegeben. Wir waren schon immer als Rote verschrien. Oh, die Juden? Tja, es gab eigentlich in dieser Gegend nicht viele Juden. Zwei vielleicht, vielleicht auch sechs. Sie wurden weggebracht. Ich habe sechs Wochen lang einen Juden versteckt. Ich habe acht Wochen lang einen Juden versteckt. (Ich habe einen Juden versteckt, er hat einen Juden versteckt, alle Kinder Gottes haben Juden versteckt.) Wir haben nichts gegen Juden; wir sind immer gut mit ihnen ausgekommen. Wir haben lange schon auf die Amerikaner gewartet. Ihr seid gekommen und habt uns befreit. […] Wir haben nichts Unrechtes getan; wir sind keine Nazis.“ Man müsste es vertonen. Dann könnten die Deutschen diesen Refrain singen […]. Sie reden alle so. Man fragt sich, wie die verabscheute Naziregierung, der niemand Gefolgschaft leistete, es fertigbrachte, diesen Krieg fünfeinhalb Jahre lang durchzuhalten […]. Wir stehen mit fassungslosen und verächtlichen Gesichtern da und hören uns diese Geschichte ohne Wohlwollen an und ganz gewiss ohne Achtung. Ein ganzes Volk, das sich vor der Verantwortung drückt, ist kein erbaulicher Anblick. Zit. nach: Hans Magnus Enzensberger (Hrsg.), Europa in Trümmern. Augenzeugen berichte aus den Jahren 1944-1948, Frankfurt a. M. 1990, S. 87 f. M 2 Schuldbekenntniss der katholischen Kirche Am 23. August 1945 veröffentlicht die Fuldaer Bischofskonferenz eine Erklärung, die Bilanz zieht über den deutschen Katholizismus im „Dritten Reich“; dort heißt es: Wir beklagen es zutiefst: Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von den falschen Lehren des National sozialismus betören lassen, sind bei den Verbrechen gegen die menschliche Freiheit und menschliche Würde gleichgültig geblieben; viele leis teten durch ihre Haltung dem Ver brechen Vorschub, viele sind selber Verbrecher geworden. Schwere Verant wortung trifft jene, die auf grund ihrer Stellung wissen konnten, was hier bei uns vorging, die durch ihren Einfl uss solche Ver brechen hätten verhindern können und es nicht getan haben, ja diese Verbrechen ermöglicht haben und sich dadurch mit den Verbrechern solidarisch erklärt haben. […] Es ist eine Forderung der Gerechtigkeit, dass immer und überall die Schuld von Fall zu Fall geprüft wird, damit nicht Unschuldige mit den Schuldigen leiden müssen. Zit. nach: Keesing’s Archiv der Gegenwart XV. Jg. (1945), S. 114 M 3 Schuldbekenntniss der evangelischen Kirche Die Evangelische Kirche bekennt sich in der „Stuttgarter Erklärung“ vom 19. Oktober 1945 mit folgenden Worten zu ihrer Verant wortung: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewalt regime seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat, aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben. Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden. Zit. nach: Keesing’s Archiv der Gegenwart XV. Jg. (1945), S. 487 M 4 Einsicht? Im Oktober 1948 fragt ein Meinungs forschungsinstitut: „Halten Sie den National sozialismus für eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde?“ Die Antworten: Nach: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-55, Allensbach 1956, S. 134 ja 57 Prozent nein 28 Prozent unentschieden 15 Prozent 1. Erläutere die Erfahrungen, die die amerikanische Journalistin beschreibt. Welche Forderungen stecken hinter Martha Gelhorns Zeilen (M 1)? 2. Vergleiche die Schuldbekenntnisse der beiden Kirchen (M 2 und M 3). 3. Interpretiere die Meinungsumfrage (M 4) und das Plakat (M 5). Was sagen sie über das Thema „Schuld und Verantwortung“ aus? M 5 „Schlussstrich drunter!“ Plakat der Freien Demokratischen Partei (FDP) zur Bundestagswahl von 1949. 31013_1_1_2015_164_227_kap4.indd 183 26.03.15 15:31 Nu r z u Pr üf zw e ke n Ei ge nt um d es C .C . B ch ne r V e la gs | |
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