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Geschichte kontrovers154 Geschichte kontrovers 1848/49 – ein Scheitern der Revolution? Den Trägern der Revolution von 1848/49 gelang es nicht, die Macht der Fürsten in den deutschen Staaten zu brechen. Die Durchsetzung der Demokratie schlug fehl. Doch ist diese Revolution deshalb auch gescheitert? Hatte dieser Misserfolg weitreichende Folgen auf die politische Entwicklung in Deutschland bis zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, weil sich demokratische Traditionen nur eingeschränkt entwickeln konnten? Oder leitete die Revolution von 1848/49 trotz Misserfolgs einen demokratischen Wandel ein und ist daher eine erfolgreiche Episode in der deutschen Geschichte? In der deutschen Öffentlichkeit wie in der Geschichtswissenschaft wird diese Frage kontrovers diskutiert. M1 Weg in die Isolierung Der von 1947 bis 1967 in Hamburg lehrende Historiker Egmont Zechlin schreibt zur Revolution von 1848 in seinem Buch über „Die deutsche Einheitsbewegung“ von 1967: Die Revolution von 1848 war das bedeutendste Ereignis in der Geschichte der deutschen Einheitsbewegung; jedoch zugleich wurde sie zur Epochenscheide der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert. Damals – so resümiert etwa der englische Historiker Trevelyan1 die Bedeutung des Jahres 1848 – habe sich das Rad der deutschen Geschichte nicht gedreht. Und diese versäumte Drehung erscheint als die entscheidende Weichenstellung für Deutschlands Weg in die Isolierung gegenüber dem Westen. So sehr man sich auch hier davor hüten sollte, einsträngige Entwicklungslinien aus der Kenntnis des Späteren zu konstruieren und etwa alle Fehlentwicklungen der deutschen Geschichte auf 1848 zurückzuführen, so scheint doch das Urteil begründet, dass mit dem Scheitern der Paulskirche zugleich die Chance vertan wurde, den Abstand der deutschen Verfassungswirklichkeit und des deutschen Staatsdenkens gegenüber den westlichen Nachbarstaaten zu verringern. Egmont Zechlin, Deutsche Geschichte, Teil 3: Die deutsche Einheitsbewegung, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1967, 177 f. M2 Tragische Entwicklungen Der Historiker Heinrich August Winkler hat von 1991 bis 2007 an der Berliner Humboldt-Universität gelehrt. Im seinem umfangreichen Werk „Der lange Weg nach Westen“ von 2000 geht er auch auf die Revolution von 1848 ein und schreibt: Gescheitert war die Revolution vor allem an einer politischen Überforderung des deutschen Liberalismus: Es erwies sich als unmöglich, Einheit und Freiheit zur gleichen Zeit zu verwirklichen. In den alten Nationalstaaten des europäischen Westens, in Frankreich und England zumal, war die nationale Vereinheitlichung über Jahrhunderte hinweg das Werk von Königen und Ständeversammlungen gewesen; wer mehr Freiheit wollte, fand den staatlichen Rahmen schon vor, in dem die Veränderungen erfolgen sollten. In Deutschland musste der staatliche Rahmen für das Vorhaben der Liberalen und Demokraten erst noch hergestellt werden. Die Liberalen im engeren Sinn waren sich durchaus bewusst, dass sie, während sie am staatlichen Rahmen des neuen Deutschland arbeiteten, die Machtmittel der größeren deutschen Staaten mit Preußen an der Spitze benötigten, um das Werk der nationalen Einigung nach außen, gegen andere Mächte, abzusichern. Schon deswegen (und nicht nur, weil sie die soziale Revolution fürchteten) verbot sich aus ihrer Sicht eine Politik der Konfrontation mit den alten Gewalten – eine Politik, wie die Linke sie befürwortete und betrieb. Die Linke hatte recht mit ihrer Behauptung, dass die Kräfte des alten Regimes dank der Verständigungsbereitschaft der gemäßigten Liberalen von den Erschütterungen des März 1848 sich rasch wieder hatten erholen können. Aber eine Lösung des Problems, wie Deutschland zur selben Zeit frei und ein Staat werden sollte, hatten die Demokraten und Sozialisten nicht anzubieten. Der linke Ruf nach dem ganz Europa erfassenden Befreiungskrieg der Völker war ein Ausdruck deutschen intellektuellen Wunschdenkens, bar jeder Rücksicht auf die tatsächlichen Kräfteverhältnisse in den einzelnen Gesellschaften wie zwischen den Staaten und folglich blind für die menschlichen Kosten der eigenen Desperadopolitik. Wäre der Krieg ausgebrochen, den die äußerste Linke forderte, hätte die Gegenrevolution wohl in viel größerem Umfang und auf sehr viel blutigere Weise gesiegt, als es zwischen dem Herbst 1848 und dem Spätjahr 1850 geschah. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000, S. 108 f. 1 George M. Trevelyan (1876 1962) lehrte Geschichte in Cambridge (Großbritannien). 5 10 15 20 25 30 35 5 10 15 4677_1_1_2015_128-157_Kap4.indd 154 17.07.15 12:02 Nu zu P rü fz ec ke n Ei ge nt um d C .C .B uc hn r V er la gs | |
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