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168 „Volk“ und „Nation“ im Deutschen Kaiserreich Die Regierung war nur dem Kaiser verantwortlich, nicht dem Reichstag, also der Volksvertretung. Deshalb musste Bismarck nicht feste Regierungskoalitionen bilden, sondern konnte Gesetze auch mit wechselnden Mehrheiten durchsetzen. Politische Parteien waren allenfalls „Verbündete auf Zeit“. Der Anspruch der Regierenden, das Allgemeinwohl bestimmen zu können, prägte noch in der Weimarer Republik das politische Denken vieler und verhinderte eine Akzeptanz der Parteiendemokratie. Die Parteien ihrerseits waren wegen der fehlenden Möglichkeiten zur direkten Regierungsbeteiligung kaum zu Kompromissen gezwungen und neigten dazu, doktrinär an ihren Programmen festzuhalten. „Kulturkampf“ Die Siege über die katholischen Mächte Österreich und Frankreich deuteten zahlreiche evangelische Theologen und Politiker als gottgewollte Überlegenheit des Protestantismus. Die deutsche Nation wurde als protestantisch wahrgenommen. Noch nach seinem Rücktritt als Reichskanzler erklärte Bismarck 1892: „Ich bin eingeschworen auf die weltliche Leitung eines evangelischen Kaisertums, und diesem hänge ich treu an.“ Da die staatliche Kirchenund Schulpolitik Ländersache war, spielten sich die konfessionellen Auseinandersetzungen weitgehend auf Länderebene ab. In Baden, wo zwei Drittel der Bevölkerung katholisch waren, kam es zu Auseinandersetzungen mit der liberalen Regierung und zur Gründung der Katholischen Volkspartei. Konfl iktpunkte waren unter anderem Eingriffe in die Schulaufsicht, die obligatorische Zivilehe und die Frage von gemischt-konfessionellen Ehen, bei denen die katholische Kirche darauf bestand, dass die Kinder katholisch erzogen wurden. Bismarck betrachtete das Zentrum als verlängerten Arm der römischen Kurie und als wichtigstes Sprachrohr der oppositionellen Kräfte des Reiches. Eine ähnliche Auffassung vertraten die Liberalen. Sie forderten einen konfessionell neutralen Staat und kämpften gegen ein in ihren Augen überholtes Weltund Menschenbild sowie ein Bildungsund Schulsystem unter kirchlicher Aufsicht. Besondere Herausforderungen waren für sie der Syllabus errorum (1864) und das sogenannte Unfehlbarkeitsdogma (1870). In einer Reihe von Maßnahmen versuchte Bismarck, die katholische Kirche und deren Amtsträger im Deutschen Reich der staatlichen Kontrolle zu unterwerfen und ihren Einfl uss zurückzudrängen. Der „Kanzelparagraf“ unterband seit 1871 die politische Öffentlichkeitsarbeit der katholischen Kirche, ein Schulaufsichtsgesetz von 1872 unterwarf Geistliche der staatlichen Kontrolle, der Jesuitenorden wurde verboten und politisch unzuverlässige Geistliche mit der Ausweisung bedroht. Bismarcks Unterdrückungspolitik blieb aber erfolglos. Die Gläubigen stellten sich nicht nur auf die Seite ihrer Kirche, sondern festigten ihren Zusammenhalt. Das Zentrum konnte seine Wählerzahlen deutlich steigern. Da Bismarck zur Unterstützung seiner geänderten Wirtschaftsund Finanzpolitik das Zentrum benötigte, nahm er die meisten Kampfgesetze wieder zurück. Die staatliche Schulaufsicht und die Einrichtung der Zivilehe (seit 1874/75) blieben aber weiterhin bestehen. i Rückseite einer Bronzemedaille zum „Kulturkampf“. Durchmesser: 4,25 cm; gestaltet von Johnann Jacob Lorenz, 1872. Auf der Vorderseite ist ein Porträt Bismarcks. Auf der Rückseite steht: „Nicht nach Canossa.“ Angesichts von Differenzen mit dem Vatikan verkündete der Reichskanzler am 14. Mai 1872 im Reichstag: „Nach Canossa gehen wir nicht.“ Die Medaille spielt auf diese sogenannte „CanossaRede“ an. Sie zeigt eine mit Schwert und Bibel gerüstete Germania, die den Papst und dessen Einfl ussnahme auf innerdeutsche Angelegenheiten zurückweist. Syllabus errorum: 1864 listete Papst Pius IX. 80 „Irrtümer“ auf. Sie betrafen vor allem die anderen christlichen Konfessionen sowie liberale Grundsätze wie die Trennung von Kirche und Staat. Unfehlbarkeitsdogma: Das erste Vatikanische Konzil legte 1870 fest, dass der Papst in Fragen der Glaubensund Sittenlehre unfehlbar sei. 4677_1_1_2015_158-183_Kap5.indd 168 17.07.15 12:26 Nu r z u Pr üf zw ck n Ei g nt u de s C .C .B uc hn r V er la gs | |
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