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262 Die Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland und Europa M1 „In Litauen gibt es keine Juden mehr“ Der Leiter des EK (Einsatzkommando) 3, SS-Standartenführer Karl Jäger, fasst am 1. Dezember 1941 für die Dienststelle der Sicherheitspolizei einen Bericht vom Einsatz seines Kommandos von Juli bis November 1941 in Litauen ab: Ich kann heute feststellen, dass das Ziel, das Judenproblem für Litauen zu lösen, vom EK 3 erreicht worden ist. In Litauen gibt es keine Juden mehr, außer den Arbeitsjuden incl. ihrer Familien. […] Diese Arbeitsjuden incl. ihrer Familien wollte ich ebenfalls umlegen, was mir jedoch scharfe Kampfansage der Zivilverwaltung (dem Reichskommissar) und der Wehrmacht eintrug und das Verbot auslöste: Diese Juden und ihre Familien dürfen nicht erschossen werden! Die Durchführung solcher Aktionen ist in erster Linie eine Organisationsfrage. Der Entschluss, jeden Kreis systematisch judenfrei zu machen, erforderte eine gründliche Vorbereitung jeder einzelnen Aktion und Erkundung der herrschenden Verhältnisse in dem betreffenden Kreis. Die Juden mussten an einem Ort oder an mehreren Orten gesammelt werden. Anhand der Anzahl musste der Platz für die erforderlichen Gruben ausgesucht und ausgehoben werden. Der Anmarschweg von der Sammelstelle zu den Gruben betrug durchschnittlich 4 bis 5 km. Die Juden wurden in Abteilungen zu 500, in Abständen von mindestens 2 km, an den Exekutionsplatz transportiert. […] Nur durch geschickte Ausnutzung der Zeit ist es gelungen, bis zu 5 Aktionen in einer Woche durchzuführen und dabei doch die […] anfallende Arbeit so zu bewältigen, dass keine Stockung im Dienstbereich eingetreten ist. […] Ich bin der Ansicht, dass sofort mit der Sterilisation der männlichen Arbeitsjuden begonnen wird, um eine Fortpfl anzung zu verhindern. Wird trotzdem eine Jüdin schwanger, so ist sie zu liquidieren. Zitiert nach: Reinhard Rürup (Hrsg.), Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941 1945. Eine Dokumentation, Berlin 1991, S. 119 f. 1. Erläutern Sie die internen Querelen um die „Arbeitsjuden“, die der Verfasser andeutet. 2. Analysieren Sie die Sprache, in der hier über Massenmorde gesprochen wird. M2 „Posener Rede“ Am 4. Oktober 1943 hält Heinrich Himmler (siehe S. 231) bei der SS-Gruppenführertagung in Posen folgende Rede: Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit auch ein ganz schweres Kapitel erwähnen. Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden. Genauso wenig, wie wir am 30. Juni 19341 gezögert haben, die befohlene Pfl icht zu tun und Kameraden, die sich verfehlt hatten, an die Wand zu stellen und zu erschießen, genau so wenig haben wir darüber jemals gesprochen und werden je darüber sprechen. Es war eine, Gottseidank in uns wohnende Selbstverständlichkeit des Taktes, dass wir uns untereinander nie darüber unterhalten haben, nie darüber sprachen. Es hat jeden geschaudert und doch war sich jeder klar darüber, dass er es das nächste Mal wieder tun würde, wenn es befohlen wird und wenn es notwendig ist. […] Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – „Das jüdische Volk wird ausgerottet“, sagt ein jeder Parteigenosse, „ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.“ Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, 5 10 15 5 10 15 20 i Wenige Minuten vor der Exekution. Foto (Ausschnitt) aus Litauen, Sommer 1941. Eine Gruppe jüdischer Frauen aus Panevezys (ca. 100 km nördlich von Vilnius) wird von litauischen Hilfstruppen gezwungen, sich zu entkleiden. Anschließend wurden die Frauen im Wald von Pajuoste erschossen. Karl Jäger erwähnt in seinem Bericht fünf Erschießungsaktionen in der Nähe von Panevezys, an denen nicht nur deutsche Soldaten, sondern auch Litauer beteiligt waren. Schon kurz nach dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941, aber noch vor Einmarsch der Deutschen, war es in Litauen mehrfach zu schweren Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung gekommen, die von einheimischen Milizen organisiert und durchgeführt wurden. Später arbeiteten diese mit den deutschen Einsatzgruppen und den Bataillonen der Ordnungspolizei zusammen und erschossen bis 1944 mehrere Zehntausend jüdische Litauer. 1 Himmler bezieht sich hier auf den „Röhm-Putsch“, bei dem 1934 ca. 100 SA-Führer und Regimegegner starben; siehe S. 230. 20 25 4677_1_1_2015_218-275_Kap7.indd 262 17.07.15 12:07 Nu r z u P üf zw ec ke n Ei g nt um d s C .C .B uc hn er V er la gs | |
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