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264 Die Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland und Europa c) Der amerikanische Historiker Christopher R. Browning untersucht am Beispiel des Reserve-Polizeibataillons 101, das in Polen 1942 während einer „Aktion“ etwa 1 200 Juden erschossen hat (insgesamt tötete diese Einheit ca. 38 000 Juden), die Motive der ausführenden Männer: Im Bataillon kristallisierten sich einige ungeschriebene „Grundregeln“ heraus. Für kleinere Erschießungsaktionen wurden Freiwillige gesucht beziehungsweise die Schützen aus den Reihen derjenigen genommen, die bekanntermaßen zum Töten bereit waren […]. Bei großen Einsätzen wurden die, die nicht töten wollten, auch nicht dazu gezwungen. […] Neben der ideologischen Indoktrinierung war ein weiterer entscheidender Aspekt […] das gruppenkonforme Verhalten. Den Befehl, Juden zu töten, erhielt das Bataillon, nicht aber jeder einzelne Polizist. Dennoch machten sich 80 bis 90 Prozent der Bataillonsangehörigen ans Töten, obwohl es fast alle von ihnen – zumindest anfangs – entsetzte und anwiderte. Die meisten schafften es einfach nicht, aus dem Glied zu treten und offen nonkonformes Verhalten zu zeigen. Zu schießen fi el ihnen leichter. Warum? Zunächst einmal hätten alle, die nicht mitgemacht hätten, die „Drecksarbeit“ einfach den Kameraden überlassen. Da das Bataillon die Erschießungen auch dann durchführen musste, wenn einzelne Männer ausscherten, bedeutete die Ablehnung der eigenen Beteiligung die Verweigerung des eigenen Beitrags bei einer unangenehmen kollektiven Pfl icht. Gegenüber den Kameraden war das ein unsozialer Akt. […] Es gibt auf der Welt viele Gesellschaften, die durch rassistische Traditionen belastet und aufgrund von Krieg oder Kriegsdrohung in einer Art Belagerungsmentalität befangen sind. Überall erzieht die Gesellschaft ihre Mitglieder dazu, sich der Autorität respektvoll zu fügen, und sie dürfte ohne diese Form der Konditionierung wohl auch kaum funktionieren. […] In praktisch jedem sozialen Kollektiv übt die Gruppe, der eine Person angehört, gewaltigen Druck auf deren Verhalten aus und legt moralische Wertmaßstäbe fest. Wenn die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 unter solchen Umständen zu Mördern werden konnten, für welche Gruppe von Menschen ließe sich dann noch Ähnliches ausschließen? Erster Text: Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, übers. v. Klaus Kochmann, Berlin 1996, S. 107 f., 489 und 518 Zweiter Text: Claus Arndt, in: „Die Zeit“ vom 15. 01. 1998 Dritter Text: Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das ReservePolizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, übers. v. Jürgen Peter Krause, Reinbek 42007, S. 224, 241 und 246 f. 1. Stellen Sie die Erklärungsansätze einander gegenüber. 2. Überprüfen und vergleichen Sie die Stichhaltigkeit der Erklärungen. M4 „Innerhalb einer Sekunde war ich allein“ Die Fotos des „Auschwitz-Albums“ sind die einzigen bekannten fotografi schen Zeugnisse, die den Prozess der Ankunft und der „Selektion“ in Birkenau zeigen. Sie sind im Frühsommer 1944 von zwei SS-Männern gemacht und danach unter dem Titel „Die Umsiedlung der Juden aus Ungarn“ zu einem Album zusammengestellt worden. Viele ungarische Überlebende haben die Erfahrung der Ankunft in Auschwitz-Birkenau später in Erinnerungsberichten und Interviews geschildert. Éva Fahidi aus der ungarischen Stadt Debrecen, die am 1. Juli 1944 nach mehrtägiger Fahrt in einem überfüllten Viehwaggon im Lager eintrifft, schreibt: Wir kommen früh am Morgen an, es wird gerade hell. Am Bahnhof ist keine Aufschrift. Wir haben keine Ahnung, wohin man uns gebracht hat. Die Waggontüren werden aufgerissen, und unter entsetzlichem Brüllen und Fluchen zerrt man uns aus dem Waggon. Wer nicht aussteigen kann, wird hinausgeworfen. Endlich haben wir Boden unter den Füßen. Wir können uns ausstrecken, die frische Morgenluft tut gut. Undefi nierbare Gestalten nehmen uns in Empfang, ich kann sie nicht einordnen. Sie tragen hässliche grau-schwarz gestreifte Pyjamas, auf dem Kopf eine eigenartige Seemannskappe aus demselben gestreiften Stoff. Sie schreien in einer seltsamen Sprache, die ans Deutsche erinnert, aber doch keines ist. Deutsche sehe ich gar nicht. Es scheint, als ob diese gestreiften Wesen hier die Herren wären. Jedenfalls treten sie so auf. Die Gestreiften sagen, wir sollen uns nicht um unser Gepäck kümmern, das würde uns hinterher gebracht. Die kleinen Kinder nimmt man den Müttern weg und übergibt sie den Großmüttern. Sie sagen, wir sollen zu Fuß gehen. Wer zu schwach ist, der würde mit dem Bus nachkommen. Wir freuen uns, dass wir uns endlich bewegen, unsere versteiften Gliedmaßen strecken können. Diejenigen unter uns, die sehr jung wirken, werden gefragt, wie alt sie sind. Wenn jemand angibt, jünger als sechzehn zu sein, schreien sie ihn wütend an: „Du bist sechzehn, vergiss das nicht, wer immer Dich auch fragt, sag sechzehn, verstehst Du, sechzehn, merk Dir das gut, Du bist sechzehn Jahre alt!!!“ Wir bemerken nicht, dass wir in zwei Gruppen aufgeteilt worden sind, eine Frauenund eine Männergruppe. […] Ich passe auf, neben meiner Mutter und Gilike zu bleiben, ich sehe nicht, wohin die Männer verschwinden. Wir sind mit Ferike beschäftigt, meine Mutter und Boci legen ihn auch jetzt oben auf den Korb und tragen jede einen Henkel, wie beim Einsteigen. Ein Gestreifter sagt ihnen, sie sollten Ferike meiner Tante Margit geben, aber sie antworten, er sei nicht schwer und sie trügen ihn gern. […] 35 40 45 50 55 60 65 5 10 15 20 25 30 35 4677_1_1_2015_218-275_Kap7.indd 264 17.07.15 12:08 Nu r z u Pr üf zw ck n Ei ge nt um es C .C .B uc hn er V er la gs | |
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