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302 Vergangenheitspolitik und „Vergangenheitsbewältigung“ M1 Schlussstrich? In den Achtzigerjahren fi ndet in der westdeutschen Geschichtswissenschaft und Presse eine heftige Debatte um die „Einmaligkeit“ des nationalsozialistischen Judenmordes statt („Historikerstreit“). Dabei geht es auch um die Frage, wie „normal“ die nationalsozialis tische Zeit jemals in der deutschen Geschichte werden könne. Der Historiker Ernst Nolte bezieht in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 6. Juni 1986 dazu Stellung: Mit der „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, kann nur die nationalsozialistische Vergangenheit der Deutschen oder Deutschlands gemeint sein. Das Thema impliziert die These, dass normalerweise jede Vergangenheit vergeht und dass es sich bei diesem Nicht-Vergehen um etwas ganz Exzeptionelles handelt. […] Gerade diejenigen, die am meisten und mit dem negativsten Akzent von „Interessen“ sprechen, lassen die Frage nicht zu, ob bei jenem Nicht-Vergehen der Vergangenheit auch Interessen im Spiel waren oder sind, etwa die Interessen einer neuen Generation im uralten Kampf gegen „die Väter“ oder auch die Interessen der Verfolgten und ihrer Nachfahren an einem permanenten Status des Herausgehobenund Privilegiertseins. Die Rede von der „Schuld der Deutschen“ übersieht allzu gefl issentlich die Ähnlichkeit mit der Rede von der „Schuld der Juden“, die ein Hauptargument der Nationalsozialisten war. Alle Schuldvorwürfe gegen „die Deutschen“, die von Deutschen kommen, sind unaufrichtig, da die Ankläger sich selbst oder die Gruppe, die sie vertreten, nicht einbeziehen und im Grunde bloß den alten Gegnern einen entscheidenden Schlag versetzen wollen. […] Es ist ein auffallender Mangel der Literatur über den Nationalsozialismus, dass sie nicht weiß oder nicht wahrhaben will, in welchem Ausmaß all dasjenige, was die Nationalsozialisten später taten, mit alleiniger Ausnahme des technischen Vorgangs der Vergasung, in einer umfangreichen Literatur der frühen Zwanzigerjahre bereits beschrieben war: Massendeportationen und -erschießungen, Folterungen, Todeslager, Ausrottungen ganzer Gruppen nach bloß objektiven Kriterien, öffentliche Forderungen nach Vernichtung von Millionen schuldloser, aber als „feindlich“ erachteter Menschen. […] Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine „asiatische“ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potenzielle oder wirkliche Opfer einer „asiatischen“ Tat betrachteten? War nicht der „Archipel GULag“1 ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der „Klassenmord“ der Bolschewiki das logische und faktische Prius2 des „Rassenmords“ der Nationalsozialisten? […] Rührte Auschwitz vielleicht in seinen Ursprüngen aus einer Vergangenheit, die nicht vergehen wollte? […] Wenn sie [die Geschichte des „Dritten Reichs“] in all ihrer Dunkelheit und in all ihren Schrecknissen, aber auch in der verwirrenden Neuartigkeit, die man den Handelnden zugute halten muss, einen Sinn für die Nachfahren gehabt hat, dann muss er im Freiwerden von der Tyrannei des kollektivistischen Denkens bestehen. Das sollte zugleich die entschiedene Hinwendung zu allen Regeln einer freiheitlichen Ordnung bedeuten, einer Ordnung, welche die Kritik zulässt und ermutigt, soweit sie sich auf Handlungen, Denkweisen und Traditionen bezieht, also auch auf Regierungen und Organisationen aller Art, die aber die Kritik an Gegebenheiten mit dem Stigma des Unzulässigen versehen muss, von denen die Individuen sich nicht oder nur unter größten Anstrengungen lösen können, also die Kritik an „den“ Juden, „den“ Russen, „den“ Deutschen oder „den“ Kleinbürgern. Sofern die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gerade von diesem kollektivistischen Denken geprägt ist, sollte endlich ein Schlussstrich gezogen werden. Es ist nicht zu leugnen, dass dann Gedankenlosigkeit und Selbstzufriedenheit um sich greifen könnten. Aber das muss nicht so sein, und Wahrheit darf jedenfalls nicht von Nützlichkeit abhängig gemacht werden. Eine umfassendere Auseinandersetzung, die vor allem im Nachdenken über die Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte bestehen müsste, würde die Vergangenheit, von der im Thema die Rede ist, zwar ebenso zum „Vergehen“ bringen, wie es jeder Vergangenheit zukommt, aber sie würde sie sich gerade dadurch zu Eigen machen. Ernst Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will, in: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, S. 39 ff. 1. Arbeiten Sie Noltes Kritik am Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit heraus. 2. Erläutern Sie, für welchen Umgang mit der Geschichte des „Dritten Reiches“ Nolte plädiert. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 1 Archipel GULag: Sammelbegriff für die sibirischen Zwangs lager, in denen zwischen 1928 und 1952 ca. fünf Millionen Menschen zu Tode kamen 2 lat. prius: „vorher“ 4677_1_1_2015_276-311_Kap8.indd 302 17.07.15 12:09 Nu r z u Pr üf zw ec en Ei ge nt um d s C .C .B uc h er V er la s | |
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