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306 Vergangenheitspolitik und „Vergangenheitsbewältigung“ M1 „Wer darf vergessen werden?“ Der Einweihung des staatlichen Denkmals für die ermordeten Juden Europas („Holocaust-Mahnmal“) im Mai 2005 geht eine über 15 Jahre dauernde Planungsund Vorbereitungsphase voraus, die in Politik und Presse kontrovers diskutiert wird. Der Historiker Reinhart Koselleck greift 1998 mit einem in der „Zeit“ veröffentlichten Artikel in die Überlegungen des Deutschen Bundestages für einen Konzeptentwurf ein: Die erste Möglichkeit ist [...] ein Denkmal nur für die ermordeten Juden zu schaffen, unter striktem Ausschluss jeder anderen Opfergruppe [...]. Dann müssen wir räumlich, ikonografi sch1, zeitlich und fi nanziell die jüdischen Wünsche einlösen: ein Opfermal. Oder wir errichten ein Mahnmal beziehungsweise ein Schandmal, jedenfalls ein Denkmal, das primär an die Tat und die Täter erinnert, die die Juden erschlagen, erschossen, vergast, beseitigt und in Asche, Luft und Wasser aufgelöst haben. Also ein Täterdenkmal? Nur scheinbar sind diese beiden Projekte identisch. Errichten wir ein Mahnmal, das die unsäglichen Taten der Deutschen erinnert, dann können wir nicht haltmachen vor den Millionen Toten anderer Gruppen, die von uns als Täter ebenso ermordet worden sind wie die Juden. Oder sollen wir als Erben der Täter eine Grenze ziehen zwischen den mit Gas Ermordeten, zum Beispiel in Sonnenstein, und jenen mit Gas Umgebrachten in Chelmno oder Sobibor? Die Vernichtungskategorien wurden von den Rasseideologen der SS ent wickelt, sortiert und exekutiert – der Tod war der gleiche, so einmalig und so verschieden die Menschen auch waren, die unschuldig in diese Mordmaschine eingeschleust wurden. [...] Aus einem Denkmal nur für die Juden allein folgt zwingend, dass wir für alle anderen Opfergruppen entsprechende Denkmäler errichten müssen. Dies ist die zweite Möglichkeit, die verwirklicht zu werden fordert. Jede Lösung unterhalb dieser Vielfalt von Denkmälern wäre verlogen. Doch bisher ist es nur bei Lippenbekenntnissen zur Toleranz geblieben. Für keine der anderen Opfergruppen gibt es eine staatliche Initiative oder private Pressure-groups, als seien ihre Toten Tote minderen Ranges, die eher der Vergessenheit anheimgegeben werden dürfen. Es ist die makabre Ironie dieser zweiten Lösung, dass wir uns weiterhin an die Häftlingskategorien der SS halten, die in den Konzentrationslagern alle so oder so defi nierten Gruppen gegen einander ausspielte. Akzeptieren wir einmal das Denkmal nur für die Juden, dann erhebt sich daraus unentrinnbar jene oft zitierte Denkmalshierarchie, die je nach Zahl der Ermordeten und je nach Einfl uss der Überlebenden die nazistischen Tötungskategorien festschreibt und in unterschiedlichen Größenordnungen versteinert. Es stellt sich die Frage, ob wir als Nation der Täter diese Folgelasten gutheißen können. [...] Weder moralisch noch politisch gibt es irgendeinen Grund, diese Millionen Toten, die demselben Terrorsystem zum Opfer gefallen sind wie die Juden, aus unserem Denkmal auszusparen. Daraus folgt die dritte Möglichkeit: dass wir nur ein einziges Denkmal errichten dürfen, ein Mal, das an alle Ermordeten und Beseitigten gemeinsam erinnert. Dann bleibt keiner der von uns ermordeten unschuldigen Menschen aus der mahnenden Erinnerung des Täter-Mals aus geschlossen. Dies ist die wirkliche geschichtliche Folgelast, die wir als Deutsche auf uns zu nehmen haben. Die Zeit, Nr. 13/1998, 19. März 1998 [www.zeit.de/1998/13/holocaust.txt. 19980319.xml; Zugriff vom 10. Januar 2013] 1. Geben Sie Kosellecks Argumente wieder. 2. Erläutern Sie, was er unter „Opfer“ und „Täter“ versteht. 3. Entwickeln Sie eigene Vorstellungen, wie auf die „geschichtliche Folgelast“ reagiert werden sollte. F Bearbeiten Sie die drei Aufgaben in Form einer Rezension von Kosellecks Aufsatz. M2 „Erinnerungskultur“ statt Geschichtsbewusstsein? Der Historiker Norbert Frei schreibt 2005 über die moderne Gedenkund Erinnerungskultur: Im Wissen um die Mechanismen schnüren Film und Fernsehen, Magazine und Museen, aber natürlich auch Historiker und politische Bildungseinrichtungen seit Monaten, zum Teil sogar seit Jahren, am Gedenkpaket 1939 – 1949 – 1989. Selbstredend bedürfen dabei die Produktionen zum 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, zum 60. Geburtstag der Bundesrepublik und zur 20. Wiederkehr des Mauerfalls unterschiedlicher Intonation. In einer Hinsicht aber werden sich die meisten ähneln: im Rekurs auf den Zeitzeugen und das durch ihn verkörperte Authentizitätsversprechen. Der Vorstellung, dass es die Stimme des Dabeigewesenen ist, die historisches Verstehen garantiert, ist kaum mehr wirkungsvoll entgegenzutreten in einer Gesellschaft, in der „Erinnerungskultur“ an die Stelle von Geschichtsbewusstsein getreten ist. […] Unter dem Tugendgebot der Erinnerung scheint weiten Teilen der politischen Klasse, freilich nicht allein in der Bundesrepublik, jeder Begriff von Geschichte und von den Vor5 10 15 20 25 30 35 5 10 15 40 45 50 1 Ikonografi e: Bestimmung, Beschreibung oder Erklärung von Bildinhalten 4677_1_1_2015_276-311_Kap8.indd 306 17.07.15 12:09 N r z P rü fzw ec ke n Ei ge nt um d es C. C. Bu ch ne r V rla gs | |
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