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308 Erinnern Erinnern Der 27. Januar als Gedenktag Vom nationalen Erinnern … Am 27. Januar 1945 wurden die Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz durch Truppen der sowjetischen Armee befreit. Bis vor wenigen Jahren spielte der 27. Januar als Tag der Befreiung von Auschwitz im kulturellen und kommunikativen Gedächtnis der Deutschen keine nennenswerte Rolle. In den Nachkriegsjahrzehnten wurde das Datum in der Bundesrepublik hin und wieder mit öffentlichen Gedenkveranstaltungen, in der DDR im Zuge der alljährlichen Befreiungsfeierlichkeiten zum Ende des Zweiten Weltkrieges gewürdigt. Den Status eines nationalen Gedenkund Feiertages erhielt der 27. Januar jedoch nicht. Durch die vielen offi ziellen Gedenkveranstaltungen, die 1995 zum 50. Jahrestag des Kriegsendes in ganz Europa begangen wurden, stieß die Idee eines Gedenktages für die Opfer des NS-Regimes auf internationale Resonanz. Das Ende des Ost-West-Konfl iktes 1989/91 hatte die Voraussetzungen für eine gemeinsame europäische Erinnerung geschaffen. In Deutschland setzte sich besonders der Vorsitzende des Zentralrates der Juden, Ignatz Bubis, für die Einführung eines solchen Gedenktages ein und schlug das „europäische“ Datum des 27. Januar vor. So wie Auschwitz symbolhaft für die Massenvernichtung des europäischen Judentums steht, sollte der Tag der Befreiung dieses Lagers als Symbol für die nationalsozialistische Schreckensherrschaft über Europa gelten. Im Juni 1995 beschlossen die Bundestagsfraktionen, den 27. Januar zum nationalen Gedenktag, nicht aber zum arbeitsfreien Feiertag zu erheben. Am 3. Januar 1996 proklamierte Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar offi ziell als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus (u M1). Das Gedenken bezog er ausdrücklich auf alle, die der nationalsozialistischen Ideologie und Rassepolitik zum Opfer gefallen sind. Alljährlich wird seither im Bundestag mit der Rede des Bundespräsidenten und eines prominenten Zeitzeugen, in den Landtagen mit Sondersitzungen und in vielen Städten mit Gedenkveranstaltungen an das historische Geschehen gedacht. … zum globalen Gedenken Mit der Holocaust-Konferenz in Stockholm, an der Vertreter von 47 Staaten teilnahmen, setzte im Jahr 2000 die internationale Karriere des 27. Januar ein. An die Forderung des Forums, einen jährlichen Gedenktag zur Erinnerung an den NS-Völkermord einzuführen, schloss sich wenig später das Europäische Parlament an. 2005 wurde der 27. Januar von der EU zum europäischen Gedenktag und im selben Jahr von den Vereinten Nationen (United Nations Organization, UNO) zum globalen Gedenktag („International Day of Commemoration in Memory of the Victims of the Holocaust“) erklärt. Bis 2008 wurde in 34 Staaten ein Holocaust-Gedenktag eingeführt, davon in 21 Staaten am 27. Januar. Auch wenn sich Status und Gedenkpraxis von Land zu Land unterscheiden, ist es der am weitesten verbreitete Gedenktag der Welt. Die Geschichte des 27. Januar ist ein Beispiel für Geschichtspolitik „von oben“. Einführung und globale Ausweitung sind nicht unumstritten, zumal die verordnete Erinnerung oft auch dazu dient, aktuelle politische Entscheidungen zu legitimieren. Daher wird über die Wahl des Datums und die Art der Einführung diskutiert, darüber, für was der Gedenktag steht, an wen erinnert werden soll, welche Funktion ihm zukommt, wie das Gedenken gestaltet und für die Zukunft bewahrt werden kann (u M2). Geschichts und Erinnerungskultur hat deshalb stets gegenwärtige und künftige Interessen und politischen Ziele zu refl ektieren. Kulturelles/kommunikatives Gedächtnis: Theorie, die in den 1980er-Jahren von den Kulturwissenschaftlern Jan und Aleida Assmann weiterentwickelt wurde. Kulturelles und kommunikatives Gedächtnis sind Teil des kollektiven Gedächtnisses, das die Gedächtnisleistung einer Gruppe von Menschen beschreibt. Während das kommunikative Gedächtnis etwa 80 Jahre zurückreicht und durch münd liche Erzählung, Erfahrung und Hörensagen geprägt wird, reicht das kulturelle Gedächtnis weit in die Vergangenheit zurück. Das kulturelle Gedächtnis ist nicht an Zeitzeugen gebunden, sondern benötigt „Expertenwissen“ – Lehrer, Priester, Schamanen usw. geben Mythen und Traditionen weiter, die als kultureller Besitz der Gemeinschaft verstanden werden. 4677_1_1_2015_276-311_Kap8.indd 308 17.07.15 12:09 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C .B uc hn er V er la gs | |
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