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330 Nationale Identität unter den Bedingungen der Zweistaatlichkeit in Deutschland Von der Arbeitszur Konsumgesellschaft Insgesamt wurde die Verbesserung der Lebensverhältnisse für die Masse der Bundesbürger erst gegen Ende der 1950er-Jahre spürbar. Der Aufschwung führte zunächst zu einem Anstieg der Arbeitszeiten. Bis Mitte des Jahrzehnts lag die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in der Industrie bei über 49 Stunden an sechs Werktagen. Der Samstag wurde erstmals 1956 für die Metallarbeiter zum arbeitsfreien Tag, der Jahresurlaub betrug zwei bis drei Wochen. Bis Ende der 1950er-Jahre sank die Wochenarbeitszeit für Arbeiter wie Angestellte auf rund 44 Stunden. Unternehmer und Freiberufl er konnten den Wohlstand wesentlich früher genießen als Arbeiter und Angestellte. Die Not der Kriegsund unmittelbaren Nachkriegszeit blieb zwar noch in Erinnerung, wurde aber von einem grundsätzlichen Optimismus und Fortschrittsglauben abgelöst. Immer mehr Bedürfnisse konnten durch den Aufschwung befriedigt werden. Auf die „Fresswelle“ der Anfangsjahre (Lebensmittel waren seit Beginn der 1950er-Jahre ausreichend vorhanden) folgte die „Kaufwelle“ (deutsche Haushalte statteten sich mit langlebigen Gebrauchsgütern und Möbeln aus), die „Reisewelle“ (Italien wurde zum Traumland der Deutschen) und schließlich die „Motorisierungswelle“ (u M2). Bei den Einkommen und Vermögen kam es freilich nicht zu einer Angleichung zwischen den gesellschaftlichen Gruppen. Selbstständige verdienten durchschnittlich das Dreifache eines Arbeitnehmers. Mitte der 1960er-Jahre besaßen 1,7 Prozent der Bundesbürger 74 Prozent des Produktivvermögens (Unternehmen, Aktien). Dagegen glichen sich die Lebensstile immer weiter an: Angehörige aller Schichten nahmen am allgemeinen Massenkonsum teil, besaßen ein eigenes Auto und unternahmen Urlaubsreisen. Die wirtschaftliche Blüte hielt bis zur Mitte der 1960er-Jahre unverändert an. In der Bevölkerung war man stolz auf den erreichten materiellen Status. Das Ziel eines „Wohl standes für alle“ schien Realität zu werden. Herausbildung der Volksparteien Mit den Wahlerfolgen Adenauers bildete sich ein neuer Parteientypus heraus – die Volkspartei. Die CDU (und in Bayern die CSU) entwickelte sich zu einer bürgerlichen Sammlungsbewegung, die für alle großen sozialen Gruppen und Schichten wählbar war. Nach empfi ndlichen Wahlniederlagen in den 1950er-Jahren wandelte sich auch die SPD zu einer modernen Volkspartei. Die Wähler hatten ihre Opposition gegen die Außenund Wirtschaftspolitik der Regierung Adenauer nicht belohnt. Sozialdemokratische Reformer wie Willy Brandt und Herbert Wehner setzten einen Kurswechsel durch. Das Ergebnis war ein neues Parteiprogramm, das Godesberger Programm von 1959, welches das Heidelberger Programm von 1925 ablöste. An die Stelle klassenkämpferischer Ziele traten die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Die SPD bekannte sich nun zur Politik der Westintegration und zur Sozialen Marktwirtschaft. Als gemäßigt linke reformistische Volkspartei vertrat sie nicht mehr nur die Interessen der Arbeiter, sondern öffnete sich neuen Wählerschichten. Der scharfe Gegensatz zwischen Unionsparteien und SPD verschwand, Koalitionen zwischen ihnen wurden denkbar. Allein die FDP konnte sich zwischen beiden Großparteien als „dritte Kraft“ behaupten, getragen von ihrer Klientel aus Akademikern und Selbstständigen. In den Jahren 1949 bis 1956 und 1961 bis 1966 war die FDP als Partner der Union an der Regierung beteiligt. i „Samstags gehört Vati mir.“ Plakat (59 x 42 cm) des DGB zum 1. Mai 1956. Herbert Wehner (1906 1990): Mitglied der KPD in der Weimarer Republik, 1935 emigriert. 1969 1983 Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag. Willy Brandt (vormals Ernst Karl Frahm) (1913 1992): Sozialdemokrat, 1933 1945 emigriert. 1957 1966 Regierender Bürgermeister von Berlin (West). 1964 1987 Vorsitzender der SPD. 1969 1974 Bundeskanzler. Erhielt 1971 den Friedensnobelpreis. 4677_1_1_2015_312-361_Kap9.indd 330 17.07.15 12:12 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei g nt um d es C. C. Bu ch ne r V er la gs | |
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