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336 Nationale Identität unter den Bedingungen der Zweistaatlichkeit in Deutschland M1 Würdigung der Pariser Verträge a) In der ersten Lesung der Pariser Verträge im Bundestag gibt Bundeskanzler Konrad Adenauer am 15. Dezember 1954 eine Regierungser klärung ab: Das Vertragswerk macht die Bundesrepublik erst fähig, die Spaltung Deutschlands zu beseitigen und die sich mit der Wiedervereinigung stellenden Aufgaben zu bewältigen. […] Die großen Mächte werden sich entsprechend ihren vertraglichen Verpfl ichtungen bei kommenden Verhandlungen für unsere Wiedervereinigung solidarisch einsetzen. […] Ich sehe nicht, meine Damen und Herren, wie heute eine bessere Basis für die Wiedervereinigung Deutschlands gewonnen werden könnte. b) Der Politiker Erich Ollenhauer, seit 1952 Vor sitzender der SPD, antwortet folgendermaßen: In Paris ist zwar nicht schriftlich, aber tatsächlich festgelegt worden, dass neue Verhandlungen mit der Sowjetunion über das Problem der deutschen Einheit erst nach der Ratifi zierung der Verträge ins Auge gefasst werden sollen. Der Herr Bundeskanzler hat sich diese These wiederholt und ausdrücklich zu eigen gemacht, auch in seiner heutigen Rede. Damit ist eindeutig der Auf rüstung der Bundesrepublik der Vorrang vor der Wiedervereinigung gegeben worden. […] Diese Politik basiert auf der Annahme, dass ohne die Einheit des Westens erfolgreiche Verhandlungen mit der Sowjetunion nicht möglich seien und dass die Sowjetunion nach der Ratifi zierung der Pariser Verträge eine größere Bereitwilligkeit zu Verhandlungen über eine für den Westen und für das deutsche Volk tragbare Lösung der europäischen und deutschen Probleme zeigen werde. […] Aber vergessen wir nie, die Sowjetunion ist eine der vier Besatzungsmächte, und ohne ihre Zustimmung und ohne ihre Mitwirkung ist eine Wiedervereinigung Deutschlands ebenso unmöglich wie ohne die Zustimmung und die Mitwirkung der Westmächte. (Lebhafte Zustimmung bei der SPD.) Es kann und darf uns daher nicht gleichgültig sein, welche Konsequenzen die Sowjetunion aus einer Einbeziehung der Bundesrepublik in die NATO im Hinblick auf ihre Deutschlandpolitik ziehen wird. Zitiert nach: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 2. Wahlperiode 1953 1957, Bd. 22, S. 3135 ff. 1. Zeigen Sie auf welche Bedeutung den Pariser Verträgen hinsichtlich einer möglichen Wiedervereinigung Deutschlands in den beiden Reden zugewiesen wird. 2. Bewerten Sie die Unterschiede in den außenpolitischen Positionen. M2 Chancen und Grenzen der Konsumgesellschaft Der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser referiert 2004 Merkmale der bundesdeutschen Konsumgesellschaft: Überraschenderweise konnte die Konsumgesellschaft Bundesrepublik in vielem, was für sie charakteristisch geworden ist, an die Entwicklung der Dreißigerjahre anknüpfen […]. Neu für die Fünfzigerjahre war hingegen, dass der Konsum langlebiger Gebrauchsgüter nicht mehr auf mittlere und gehobene Einkommensklassen begrenzt war, sondern mit wachsendem Realeinkommen in nahezu allen Schichten der Bevölkerung einsickerte. Für den Besitz mancher Konsumgüter wie zum Beispiel für Fernsehgeräte, Musiktruhen oder Kühlschränke spielte in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre die soziale Stellung kaum noch eine bestimmende Rolle. Die „Demokratisierung des Konsums“ […] setzte sich […] durch. Kennzeichnend für diese Entwicklung ist das Scheitern schichtspezifi sch konzipierter Automobile (z. B. die „Kabinenroller“ von Gutbrod, Maico oder Messerschmidt) […] und der Siegeszug des auf technische Funktionalität und ein (käufer-) schichtübergreifendes Image angelegten Volkswagen-Käfers […]. Das private Automobil wurde in den Fünfzigerjahren zum Schlüsselbegriff für soziales Wohlbefi nden, bürgerliches Freiheitsgefühl, wirtschaftliche Erwerbschancen und gesellschaftliches Prestige. Die Konsequenzen, die sich daraus für Städtebau, Siedlungspolitik, Freizeitgestaltung, Kommunikationsverhalten, Wirtschaftsstruktur, Umwelt, ja nahezu für alle Bereiche des menschlichen Lebens ergaben, revolutionierten das Alltagsleben. […] In dieselbe Richtung zeigten die Herausbildung des Tourismus als Kollektivphänomen und die Expansion des neuen Massenmediums „Fernsehen“. Beide ebenfalls epochemachenden Entwicklungen haben in Deutschland ihren Ursprung in den Dreißigerjahren, sodass auch hier auf eigene Erfahrungen zurückgegriffen werden konnte. […] Vor der generellen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage traten andere Probleme der „Wirtschaftswunderzeit“ zurück. […] Je weiter die Motorisierung voranschritt und die Freiheit des Einzelnen zu erweitern versprach, desto mehr stiegen die sozialen Kosten einer „autogerechten“ Welt, in der die Mehrheit der Bundesbürger nunmehr wohnen wollte, und verringerten sich in den Verdichtungsräumen des Straßenverkehrs die Entfaltungsmöglichkeiten des einzelnen Autofahrers. Ursprüngliche Lebensqualität schlug um in Umweltbelastung. Ähnliches gilt für den Massentourismus, dessen Reiz gerade durch die Folgen seiner steigenden Popularität und der Erschwinglichkeit von Pauschalreisen zwangsläufi g Schaden nehmen musste, und für die elektronischen Medien, 5 10 15 20 25 30 5 10 15 20 25 30 35 40 45 4677_1_1_2015_312-361_Kap9.indd 336 17.07.15 12:13 N r z u Pr üf zw ck en Ei ge nt u d e C .C .B uc hn er V er la gs | |
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