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Geschichte kontrovers Geschichte kontrovers 360 Die DDR – ein Unrechtsstaat? Seit der deutschen Wiedervereinigung fl ammt immer wieder die Diskussion auf, ob die DDR eindeutig als Unrechtsstaat zu bezeichnen sei. Der Einigungsvertrag 1990 charakterisierte sie klar als „SED-Unrechts-Regime“. Doch diese Auffassung wurde seitdem quer durch die Parteienlandschaft der Bundesrepublik und durch die politischen Grundeinstellungen von Juristen, Politikwissenschaftlern und Vertretern der Bundes regierung wie der politischen Opposition kontrovers diskutiert. Während die einen die zahlreichen Verstöße gegen die Menschenrechte betonen, argumentieren die anderen, dass alles, was in der der DDR im Namen des Rechts angeordnet wurde, nicht als Unrecht zu bezeichnen sei. M1 „Moralischer Generalverdacht“ Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin und Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) von 1999 bis 2008, nimmt Stellung: Wer die DDR einen „Unrechtsstaat“ nennt, stellt ihre ehemaligen Bürger unter einen moralischen Generalverdacht. [...] Deshalb wende ich mich gegen eine monopolistische Deutung der DDR als „Unrechtsstaat“. Dabei verstehe ich die Gründe, warum andere sie so bezeichnen, durchaus: fehlende Menschenund Bürgerrechte, keine Gewaltenteilung, keine unabhängige Justiz, keine freien Wahlen. Ich habe das Regime der DDR selbst unzählige Male so oder ganz ähnlich kritisiert, die DDR als Diktatur bezeichnet und öffentlich hinzugefügt, dass deswegen zum Beispiel auch die „Errungenschaften“ im Kindergartenoder Schulsystem immer unter diesem fundamental einschränkenden Vorzeichen gesehen werden müssen. Dabei folge ich der berühmten Analyse, die der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel aus eigener Erfahrung über den NSStaat vorgelegt hat. Er unterscheidet in seinem Buch über den Doppelstaat zwischen dem „Normenstaat“ und dem „Maßnahmenstaat“, dessen Dualität das „Dritte Reich“ geprägt hat. Während der „Normenstaat“ um des möglichst reibungslosen Funktionierens von Wirtschaft und Gesellschaft willen in vielen Bereichen die rechtsstaatliche Tradition der Weimarer Republik fortsetzte, konnte die NSDAP im „Maßnahmenstaat“ den „Normenstaat“ jederzeit willkürlich außer Kraft setzen. Auch die SED konnte jederzeit die rechtsförmigen Verfahren aussetzen und hat das mit ihrer marxistisch-leninistisch „legitimierten“ Avantgarderolle gerechtfertigt. Daher war und blieb die DDR nicht nur eine Diktatur, sondern auch ein Ort, an dem aus Mangel an Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung Willkür jederzeit praktiziert werden konnte und von der SED auch praktiziert wurde. Wer nun über diese Qualifi zierungen hinaus auf der totalisierenden Bezeichnung „Unrechtsstaat“ besteht, muss mehr wollen und schließt de facto auch mehr ein. Denn das totalisierende Wort „Unrechtsstaat“ verweist auf die Gestalt der gesamten ostdeutschen Lebenswirklichkeit. Während man sich der Mitgliedschaft in der herrschenden Einheitspartei SED, erst recht in der Stasi entziehen konnte, blieb der Staat der DDR das unvermeidbar umfassende politische Gehäuse aller Ostdeutschen. Der Staat ist keine separate Organisation innerhalb oder neben der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft in ihrer politischen Verfasstheit. Wird der Staat pauschal zum „Unrechtsstaat“ gemacht, folgen daraus auch Wertungen für die Lebenswirklichkeit der Menschen. […] Es macht also einen Unterschied aus, ob man den Menschen in der DDR, die seit dem Mauerbau Gefangene dieses Staates waren, pauschal unterstellt, dass sie sich als Staatsbürger in ihrem berufl ichen wie privaten Leben an diesem Unrecht beteiligt haben, weil sie unvermeidbar involviert waren, oder ob man ihnen innerhalb des Staates der DDR die Möglichkeit rechtlichen Handelns einräumt. Entweder der DDR-Staat hat als „Unrechtsstaat“ 40 Jahre lang jede Schule, jeden Kindergarten, jedes Bauamt geprägt und die Menschen jederzeit in sein Unrecht gleichsam hineingezogen. Dann verliert die gegenwärtig gängige und „politisch korrekte“ Unterscheidung zwischen den Menschen und dem politischen System, unter dem sie leben mussten, jeden Sinn. Denn dann mussten sich alle kompromittieren. Oder man konzediert, dass es analog zu Fraenkels „Normenstaat“ Bereiche im Staat der DDR gab, in denen es trotz des Damoklesschwerts der SEDWillkür faktisch, wenn auch nie gesichert, auch rechtlich zuging. In denen die Menschen sich auch um Rechtlichkeit bemühten. Um diese Unterscheidung geht es mir in der Abwehr der totalisierenden Deutung des „Unrechtsstaats“. […] Die Diktatur wurde den Ostdeutschen auferlegt. Der totalisierende „Unrechtsstaat“ stellt sie fl ächendeckend moralisch unter Verdacht. In der rechtsstaatlichen Demokratie des vereinigten Deutschland gilt aber zunächst die Unschuldsvermutung für alle Bürger – nicht nur für die westdeutschen. Gesine Schwan, In der Falle des Totalitarismus, in: DIE ZEIT, Nr. 27 vom 25. Juni 2009 (gekürzt) 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 4677_1_1_2015_312-361_Kap9.indd 360 17.07.15 12:13 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um de s C .C .B uc hn er V er l gs | |
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