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Geschichte kontrovers Geschichte kontrovers 386 1989 – Revolution, Zusammenbruch oder Wende? 1989 demonstrierten Hundertausende Bürger in der DDR, die Wirtschaftskraft war aufgezehrt und die sowjetische Schutzmacht stützte das Regime nicht länger. Eine gesamte Gesellschaft geriet in Bewegung, die Berliner Mauer fi el – und die Parteidiktatur in der DDR ebenfalls. Schließlich trat die DDR der Bundesrepublik 1990 bei. Warum scheiterte die DDR nach vierzig Jahren? Unter Historikern wird diese Frage kontrovers debattiert. Dabei wird um die richtige Gewichtung der verschiedenen Ursachen diskutiert, die zum Ende der DDR führten. Handelt es sich bei den historischen Prozessen von 1989 um eine Revolution, einen Zusammenbruch oder eine Wende? M1 „Friedliche Revolution“ oder Zusammenbruch? Der Historiker Horst Möller (geb. 1943) äußert sich zur Kontroverse am 3. Mai 1994: So erfreulich es für uns Deutsche ist, dass es diese breite Oppositionsbewegung, diese massenhafte Opposition am Ende der DDR gegeben hat und auch früher oppositionelle Ansätze existierten – der Machtverfall der DDR, ihre ökonomischen, politischen, ideologischen Probleme, ihr vollkommener Bankrott wäre durch die Massenopposition allein nicht herbeizuführen gewesen: Es ist zunächst einmal, so wichtig diese Massenopposition gewesen ist und so sehr wir ihr verpfl ichtet sind, eine Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion gewesen. Indem sozusagen der Anker all dieser Satellitenstaaten, gewissermaßen ihre ursprüngliche Verursachung wegfi el, sind alle anderen osteuropäischen Diktaturen und auch die DDR fragilisiert1 worden, und zwar in einer Weise, dass ihr Ende absehbar war. Die oppositionelle Massenbewegung hat sicher dieses Ende beschleunigt, sie ist aber nie Ursache gewesen. Zitiert nach: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ […], herausgegeben vom Deutschen Bundestag, Bd. IX: Formen und Ziele der Auseinandersetzung mit den beiden Diktaturen in Deutschland, Frankfurt am Main/ Baden-Baden 1995, S. 588 597, hier S. 584 f. M2 Was spricht gegen die Bezeichnung Revolution? Ilko-Sascha Kowalczuk ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR: Stellten die Ereignisse wirklich eine Revolution dar? […] Der […] Frage kann man sich auf zwei Wegen nähern. Einerseits befragt man zeitgenössische Dokumente von 1989/90. Dann wird man feststellen, dass die Bezeichnung „Revolution“ für die Vorgänge fast selbstverständlich war. Sie konkurrierte zwar stets mit „Umbruch“, „Wende“, „Zusammenbruch“, „Erosion“, „Scheitern“, „Implosion“ oder „Untergang“, aber 1989/90 schlossen sich diese Begriffe noch nicht gegenseitig aus. Das erscheint logisch, weil Revolutionen die anderen Prozesse, die diese Begriffe umschreiben, mit einschließen. Von einer Revolution sprachen die Menschen aus unterschiedlichen Gründen und mit sehr unterschiedlichen Erwartungen, aber dass es sich um eine solche handelte, war 1989/90 weithin unumstritten. […] Wenn sich nun zusammenfassen lässt: die alte Ordnung war handlungsunfähig, delegitimiert und moralisch kompromittiert; die von ihr vertretenen Werte und Überzeugungen zerschlissen; Bürger und Massenbewegungen stellten sich ihr entgegen und forderten neue politische, gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Strukturen; eine neue Ordnung wurde errichtet; innerhalb weniger Monate beseitigte die Bewegung alte Strukturen, Werte, Ideen, Kulturen und Herrschaftseliten, fast nichts war im öffentlichen Raum mehr wie zuvor, was spricht dann gegen die Bezeichnung als Revolution? Eigentlich nichts […]. Es dominiert nämlich bei der Betrachtung von „1989“ noch immer die Annahme, mit Gorbatschow habe alles begonnen und ihm sei alles zu verdanken […] Gorbatschows Machtübernahme war bereits das Ergebnis einer tiefen Krise einerseits und der gesellschaftlichen Widerstandsbewegung andererseits, die ihren Ausgang in Polen nahm. Die DDR kam erst spät dazu […]. Die DDR-Revolution ist ohne internationalen Zusammenhang nicht zu erklären, aber das schränkt auch wiederum, wie oft behauptet wird, die Möglichkeit, die Vorgänge als Revolution zu bezeichnen, nicht ein […]. Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 537 545 (stark gekürzt) 1 fragil: zerbrechlich 5 10 15 5 10 15 20 25 30 35 4677_1_1_2015_362-397_Kap10.indd 386 17.07.15 12:15 Nu r z u Pr üf zw ck Ei ge nt m d e C .C .B uc hn r V er la gs | |
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