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422 Multilateraler Interessenausgleich nach dem Dreißigjährigen Krieg M2 Eine Meinung aus dem 19. Jahrhundert Der Historiker Friedrich Rühs wird mit 29 Jahren an die 1810 neu gegründete Berliner Universität berufen. Nach den „Befreiungskriegen“ und zur Zeit des Wiener Kongresses (siehe S. 432 ff.) erscheint 1815 das Werk, aus dem folgender Auszug stammt: Der zweite Zweck, den die Franzosen zu erhalten suchten, war eine solche Aufl ösung der Einheit in Deutschland, eine solche Vernichtung aller alten Grundsätze und Begriffe, die es ihnen leicht machen musste, immer den Meister im Reich zu spielen. […] Deswegen ward der Grundsatz aufgestellt, dass alle deutschen Stände souverän wären; die Franzosen behaupteten ausdrücklich, die deutschen Fürsten wären in ihrem Gebiet völlig so unumschränkt, als der Kaiser; sie hätten Recht über das Leben, die Güter und die Ehre ihrer Untertanen; sie könnten auch zum Beistand fremder Mächte Truppen werben; die Fürsten und selbst die Städte könnten nach Belieben unterhandeln und Bündnisse schließen. […] Entwickelte sich ein solcher Zustand der Dinge, so war das deutsche Reich seinem Wesen nach vernichtet: Alle Kraft war aufgelöst und gebrochen, und das heiligste Gut des deutschen Volkes, die freie ständische Verfassung, unwiederbringlich verloren; Frankreich konnte überall tätig sich stets eine bedeutende Partei erhalten […]. Es war in der Tat eine höchst empörende Anmaßung unserer Erbfeinde, auf eine so frevelhafte Weise in die besonderen inneren Angelegenheiten Deutschlands einzugreifen. […] Der westfälische und der pyrenäische Friede [1659] hatten die Macht und das Ansehen Frankreichs ungemein erhöht: Nach Mazarins Tode übernahm Ludwig XIV. selbst das Heft der Regierung; der Erfolg, den Richelieu und sein Nachfolger gehabt hatten, spornte seinen Ehrgeiz, sie zu übertreffen; nichts schien ihm unmöglich, und die Herrschaft über die Erde war das Ziel, nach dem er strebte. Ununterbrochen trieb daher die französische Politik ihr hinterlistiges Spiel in Deutschland. […] Die Garantie des westfälischen Friedens ist jetzt [1815] durch die Tat aufgehoben und es versteht sich, dass Frankreich aus dem Vertrage keine Ansprüche mehr ableiten kann, um sich in die inneren Angelegenheiten Deutschlands zu mischen: Überhaupt war eine solche Vormundschaft schon in ihrer Idee unwürdig und entehrend; welches andere Volk hat sie sich je gefallen lassen? […] Es muss ein allgemeines und ununterbrochenes Streben werden, alle Fremden aus Deutschland zu entfernen, weil sie das Vaterland beständig zu einem Spielball auswärtiger Politik gemacht haben. Friedrich Rühs, Historische Entwicklung des Einfl usses Frankreichs und der Franzosen auf Deutschland und die Deutschen, Berlin 1815, S. 75 79, 129 und 352 f. (sprachlich modernisiert) 1. Erläutern Sie Rühs’ Standpunkt. 2. Vergleichen Sie das historische Urteil mit dem von Saint-Pierre (M1b). M3 Neue Blicke auf den Westfälischen Frieden a) Johannes Burkhardt, dessen Forschungsschwerpunkt die Frühe Neuzeit ist, hält in einem 1998 veröffentlichten Aufsatz über den Westfälischen Frieden fest: Der Friede war nur zu erlangen durch ein prinzipielles Abrücken aller von Maximalzielen und wurde dabei zu einer wichtigen Zäsur in der Ausbildung des europäischen Staatensystems. Das Staatensystem ist als Friedenskompromiss entstanden und erwies sich so als grundlegendes Konfl iktlösungsmittel Europas. […] Die Kriege nach dem Westfälischen Frieden sind […] nicht dem Staatensystem selbst anzulasten. Der Westfälische Frieden hatte ein neues Ordnungsideal aufgestellt, das aber erst durchgesetzt werden musste, oft selber mit kriegerischen Mitteln und mit allen Rückfällen und Verspätungen. […] Wenn so auch der Westfälische Frieden in der unmittelbaren Zukunft nicht den ewigen Frieden gebracht hat, so hat er doch das Modell aufgestellt, wie und nach welchen Grundlagen ein friedliches Zusammenleben in Europa möglich sein würde: eine prinzipielle Gleichrangigkeit aller Staaten. Nach allen Kriegen in den nächsten 150 Jahren versicherten die Friedensverträge regelmäßig erst einmal, dass man zum Westfälischen Frieden zurückkehren und er wieder gelten solle. Wenn man die sich von Friedensvertrag zu Friedensvertrag ändernde politische Landkarte ansieht, wirkt eine solche Klausel geradezu wahrheitswidrig. Aber gemeint war natürlich nach dem jeweiligen kriegerischen Rückfall die Wiederherstellung des Nebeneinanders der Staaten. Noch bevor das moderne Prinzip der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz in der Französischen Revolution formuliert wurde, ist es im Staatenund Völkerrecht aufgekommen. Das inmitten einer Ständegesellschaft avantgardistische egalitäre Prinzip wurde seit dem Westfälischen Frieden zur Grundlage aller Friedensverträge und jeweils wiederhergestellter Staatensysteme. Auch wenn wir heute wieder auf eine Einheit Europas zugehen, so doch ganz im Gegensatz zum alten Universalismus auf eine Einheit, die auf das gleichberechtigte Nebeneinander seiner Einzelstaaten gegründet ist. So wirkt das Grundprinzip des Friedensschlusses fort bis in die Gegenwart. Fast kann man den Eindruck haben, dass der Westfälischen Friede nicht so sehr in seiner unmittelbaren Zukunft als in einer Langzeitperspektive zum Friedensrezept Europas geworden ist. 5 10 15 20 25 30 35 5 10 15 20 25 30 35 40 4677_1_1_2015_398-423_Kap11.indd 422 17.07.15 12:17 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei en tu m de s C .C .B uc hn er V er la gs | |
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