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Frankreich und das zukünftige Gleichgewicht der Mächte Die Siegermächte hätten nach den langen Kriegsjahren dem Verlierer durchaus härtere Bedingungen auferlegen können. Wie ist die Milde gegenüber Frankreich zu erklären? Einerseits mit dem wiederhergestellten (restaurierten) Königtum der Bourbonen und andererseits mit dem Wunsch nach einer Wiederherstellung des Gleichgewichts der Mächte auf dem europäischen Kontinent. Auch wenn die Siegermächte den politischen Grundsatz der „Balance of power“ anerkannten und damit Frankreich weiterhin als Großmacht akzeptieren wollten, zeigte sich auf dem Wiener Kongress, dass die Briten und Österreicher unter „Gleichgewicht der Macht“ etwas anderes verstanden als die Russen oder Preußen. Anders als beim fast fünf Jahre dauernden Friedenskongress in Münster und Osnabrück (1643 1648)* ging es 1814/15 in Wien nicht um die Festlegung der Friedensbedingungen, sondern um die Frage: Wie muss die europäische Ordnung aussehen, um einen dauerhaften Frieden zu erlangen? Dabei ging es nicht darum, alle Veränderungen der letzten 25 Jahre rückgängig zu machen. Das Hauptziel der großen Mächte war: Auf dem Kontinent sollte keine Macht mehr in der Lage sein, den anderen Mächten ihren Willen aufzudrücken. Dazu galt es, ein politisches und militärisches Gleichgewicht zu erstellen. Dabei sollten die alten dynastischen Verhältnisse beachtet sowie die Folgen der Kriege berücksichtigt werden. Europa in Wien Die kaiserliche Reichshauptstadt und Residenzstadt der Habsburger war für den Kongress wie geschaffen, weil sie zentral lag und die notwendige Infrastruktur besaß. Für die gekrönten Häupter bot die Hofburg Platz. Die vielen Villen und Paläste der rund 265 000 Einwohner zählenden Stadt dienten den Gesandten und Gästen als Unterkunft. Alle europäischen Mächte waren eingeladen worden. Nur auf eine offi zielle Teilnahme des Osmanischen Reiches hatte man verzichtet, obwohl es durchaus von den Napoleonischen Kriegen betroffen war. Bei den Gesprächen, die 1648 zum Westfälischen Frieden geführt hatten, verhandelten allein die Gesandten, doch die Entscheidungen trafen die Fürsten in den fernen Residenzstätten. In Wien waren dagegen 15 gekrönte Häupter und rund 200 Fürsten mit ihren Delegationen anwesend. Die größten Abordnungen stellten Russland mit 53 und Preußen mit 46 Gesandten. England war mit 25 und Frankreich mit 15 Personen gekommen. Anwesend waren auch Vertreter von 33 deutschen Staaten sowie zahlreiche Standesherren, die ihre Selbstständigkeit nach 1803 verloren hatten. Hinzu kamen Abgesandte der Freien Städte und der Juden sowie zahlreiche Journalisten, Künstler, Schaulustige, Agenten und Prostituierte. Die Arbeitsweise des Kongresses Der Kongress wurde am 3. November 1814 formlos eröffnet. Erste Gespräche zwischen den Gesandten Großbritanniens, Österreichs, Preußens und Russlands hatten schon ab September in Wien stattgefunden. Sie regelten vorab den Ablauf und die Organisation der Konferenz sowie den Umgang mit Frankreich. Dabei war deutlich geworden, dass die vier Siegermächte von 1814 den Verlauf des Kongresses bestimmen wollten. Gemeinsame Verhandlungen aller Teilnehmer, wie sie heute selbstverständlich sind, sollten nicht stattfi nden. Stattdessen bildete man unterschiedliche Kommissionen, so zum Beispiel ein Gremium der sechs Großmächte (Österreich, Russland, Großbritannien, Preußen, Spanien und Frankreich) für „die großen * Siehe S. 408 ff. Lesetipps: p Heinz Duchhardt, Der Wiener Kongress. Die Neuordnung Europas 1814/15, München 2013 p Wolf D. Gruner, Der Wiener Kongress 1814/15, Stuttgart 2014 Filmtipp: „Und er bewegte sich doch. Neues vom Wiener Kongress“; eine Dokumentation von Roswitha und Ronald P. Vaughan, 2014 Balance of power (Gleichgewicht der Macht): Grundprinzip der englischen Außenpolitik vom 17. bis 20. Jh. Ziel war es, das machtpolitische Gleichgewicht zwischen den europäischen Staaten zu wahren bzw. die Hegemonie einer Macht (oder eines Mächtebündnis) zu verhindern. 432 Europäische Friedensordnung nach den Napoleonischen Kriegen 4677_1_1_2015_424-451_Kap12.indd 432 17.07.15 12:17 Nu r z u Pr üf zw ck en Ei ge nt um d s C .C .B uc hn er V er la g | |
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