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Der Wiener Kongress – zynische Gleichgewichtspolitik oder neue Friedenskultur? 1814 begann der Wiener Kongress, der Europa nach Französischer Revolution und nach den Napoleonischen Kriegen mit Millionen Toten ordnen sollte. Die Ergebnisse des Kongresses sind sowohl zeitgenössisch als auch in der aktuellen historischen Forschung sehr umstritten. Handelte es sich um ein menschenverachtendes Gerangel von wenigen Großmächten um Sicherung strategisch-militärischer Einfl usszonen auf Kosten schwacher Staaten oder um eine neue Machtbalance der Großmächte in Europa sowie in den deutschen Staaten? Stellte der Wiener Kongress eine Verhandlungsrunde dar, die pragmatisch neue Kooperationsregeln entwarf, um Frieden und Sicherheit zu gewinnen? Steht der Wiener Kongress demnach für eine zynische Gleichgewichtspolitik oder für eine neue Friedenskultur? M1 Ideologisierte Kriege nach dem Wiener Kongress? Der Historiker Michael Hundt von der Universität der Bundeswehr in Hamburg fasst 2002 das Ergebnis des Wiener Kongresses wie folgt zusammen: Das von den Alliierten in den Jahren 1813-1815 errichtete europäische Gleichgewichtssystem sicherte dem Kontinent für die folgenden Jahrzehnte bis zum Krimkrieg 1853-56 äußere Ruhe und verhinderte zwischenstaatliche Kriege. […] Dagegen scheiterte der Plan der Alliierten, neben dem Gleichgewichtssystem auch mit einem innenpolitischen Ordnungssystem auf Grundlage der monarchischen Gewalt die Ruhe in den europäischen Staaten herzustellen. Der ideologische Konfl ikt zwischen monarchischer und Volkssouveränität, der durch die Französische Revolution aufgebrochen war, sowie die Idee des Nationalismus ließen sich nicht mehr aus der Welt schaffen und bestimmten das gesamte 19. Jahrhundert über nicht nur die Innen-, sondern zunehmend auch die Außenpolitik, wenn sich liberale Westund konservative Ostmächte, dynas tischer Vielvölkerstaat und nationale Bewegungen ge genüberstanden. Kriege, die im 18. Jahrhundert als Kabinettskriege geführt worden waren, wurden ideologisiert und erhielten damit eine innenpolitische Komponente, die bei Konfl iktund Kriegsbeendigun gen rasch an Bedeutung gewann. Michael Hundt, Frieden und internationale Ordnung im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons I. (1789 1815), in: Bernd Wegner (Hrsg.), Wie Kriege enden. Wege zum Frieden von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2002, S. 121 160, hier S. 159 f. M2 Ein echter Friede? Der US-amerikanische Historiker und Schriftsteller David King bilanziert 2008 die Folgen des Wiener Kongresses so: Schließlich, und das war das wichtigste Ergebnis, stellte der Kongress den Frieden wieder her – einen echten Frieden, der länger Bestand hatte, als alle Gesandten erwartet hätten. Trotz der vielen Spannungen und Feindseligkeiten, die im Zeitalter des Nationalismus schwelten und zu zahlreichen Aufständen, Rebellionen und Bürgerkriegen führten – Fakt ist, dass für 100 Jahre kein Konfl ikt mehr so sehr außer Kontrolle geriet, dass er alle Großmächte in einen Krieg hineinzog. Der nächste größere Konfl ikt war der Krimkrieg, gefolgt von den nationalen Einigungen Italiens und Deutschlands, doch es kam zu keiner kriegerischen Auseinandersetzung in den Größenordnungen der Napoleonischen Kriege oder des Ersten Weltkrieges. Auch wenn der Wiener Kongress nicht der einzige Faktor war, der zu diesem Erfolg geführt hat, so spielte er doch eine unverzichtbare Rolle. Die in Wien versammelten Friedensstifter hatten ein System kollektiver Sicherheit etabliert und dadurch eine Entwicklung in Gang gesetzt, die von Lord Castlereagh zu Recht als der „große Apparat der europäischen Sicherheit“ gepriesen wurde. Sie hatten zudem ein Forum geschaffen, bei dem sich Staatsführer regelmäßig trafen, um ihre Differenzen auszuräumen 5 10 15 20 5 10 15 20 25 30 Geschichte kontrovers Geschichte kontrovers 450 4677_1_1_2015_424-451_Kap12.indd 450 17.07.15 12:18 Nu r z u Pr üf zw ck en Ei ge nt um d es C .C .B uc hn er V er la gs | |
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