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474 Internationale Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg M1 Schuld waren die anderen Ein öffentlicher Untersuchungsausschuss soll nach dem Krieg die Ursachen der deutschen Niederlage ergründen. Generalfeldmarschall Hindenburg erklärt am 18. November 1919: Während sich beim Feinde trotz seiner Überlegenheit an lebendem und totem Material alle Parteien, alle Schichten der Bevölkerung in dem Willen zum Siege immer fester zusammenschlossen, und zwar umso mehr, je schwieriger ihre Lage wurde, machten sich bei uns, wo dieser Zusammenschluss bei unserer Unterlegenheit viel notwendiger war, Parteiinteressen breit, und diese Umstände führten sehr bald zu einer Spaltung und Lockerung des Siegeswillens. Die Geschichte wird über das, was ich hier nicht weiter ausführen darf, das endgültige Urteil sprechen. Damals hofften wir noch, dass der Wille zum Siege alles andere beherrschen würde. Als wir unser Amt übernahmen, stellten wir bei der Reichsleitung eine Reihe von Anträgen, die den Zweck hatten, alle nationalen Kräfte zur schnellen und günstigen Kriegsentscheidung zusammenzufassen […]. Was aber schließlich, zum Teil wieder durch Einwirkung der Parteien, aus unseren Anträgen geworden ist, ist bekannt. Ich wollte kraftvolle und freudige Mitarbeit und bekam Versagen und Schwäche. Die Sorge, ob die Heimat fest genug bliebe, bis der Krieg gewonnen sei, hat uns von diesem Augenblicke an nie mehr verlassen. Wir erhoben noch oft unsere warnende Stimme bei der Reichsregierung. In dieser Zeit setzte die heimliche planmäßige Zersetzung von Flotte und Heer als Fortsetzung ähnlicher Erscheinungen im Frieden ein. Die Wirkungen dieser Bestrebungen waren der Obers ten Heeresleitung während des letzten Kriegs jahres nicht verborgen geblieben. Die braven Truppen, die sich von der revolutionären Zermürbung freihielten, hatten unter dem pfl ichtwidrigen Verhalten der revolutionären Kameraden schwer zu leiden; sie mussten die ganze Last des Kampfes tragen. Die Absichten der Führung konnten nicht mehr zur Ausführung gebracht werden. Unsere wiederholten Anträge auf strenge Zucht und strenge Gesetzgebung wurden nicht erfüllt. So mussten unsere Operationen misslingen, es musste der Zusammenbruch kommen; die Revolution bildete nur den Schlussstein. Ein englischer General sagte mit Recht: „Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.“ Den guten Kern des Heeres trifft keine Schuld. Seine Leistung ist ebenso bewunderungswürdig wie die des Offi zierskorps. Wo die Schuld liegt, ist klar erwiesen. Herbert Michaelis und Ernst Schraepler (Hrsg.), Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkundenund Dokumentensammlung zur Zeit geschichte, Bd. 4, Berlin o. J., S. 7 f. 1. Analysieren Sie Hindenburgs Aussage im Hinblick auf die von ihm verwendeten Wertungen. 2. Überprüfen Sie seine Vorwürfe mithilfe der Ihnen vorliegenden Fakten und Kenntnisse. F Setzen Sie Ihre Ergebnisse in eine Karikatur um, die Hindenburgs Vorstellung von einem „Wir“ und der bei anderen liegenden „Schuld“ kritisch veranschaulicht. M2 Scham und Schande Antonius John, geboren 1922 in Ahlen (Westfalen), erinnert an seine Kindheit in der Weimarer Republik: Wir empfanden den Friedensschluss von Versailles als eine Schande, und wir schämten uns des verlorenen Krieges und erst recht des Staates, der daraus hervorgegangen war. Wer hatte uns diese Scham gelehrt, dieses Schandegefühl beigebracht? Ich weiß es nicht. Der Vater und das Elternhaus waren es gewiss nicht. Auch mein Vater empfand Versailles als ein Unrecht. Er selbst war ja aus dem Osten vertrieben worden. Er hat mich aber immer wieder über historische Zusammenhänge aufgeklärt. Er glaubte an die Republik, glaubte an das Vaterland. Es waren wohl eher Gespräche mit den Schulkameraden, mit Leuten auf der Straße und die in der Öffentlichkeit überall anzutreffende intensive Propaganda, die so starke Wirkung auf uns ausübten. Es gab auch Lehrer, die kräftig in diese Kerbe schlugen. Wir wussten zwar nichts Genaues über Versailles. Wir kannten aber die Fakten, die wir als Schande zu empfi nden hatten. […] Noch mehr erlag ich dieser Vorstellung, als ich wenig später in die Schule kam. Nun wurde mir endgültig klar, dass die Franzosen die Deutschen hassten und dass sie Deutschland für Generationen der „Ausbeutung“ und der „Zinsknechtschaft“ (was das war, wussten wir natürlich nicht) unterworfen hatten. Man habe uns nur ein paar schlecht bewaffnete Soldaten gelassen, habe uns ganze Provinzen entrissen und obendrein dafür gesorgt, dass sich die Deutschen im Zank der Parteien gegenseitig am Boden hielten. Mein Vater versuchte zwar immer wieder, Hintergründe aufzuzeigen, um solche Äußerungen zu relativieren. Aber das wollten wir Jungen gar nicht hören. Im dritten Schuljahr konnten wir alle territorialen Verluste Deutschlands aufzählen, einschließlich des Hultschiner Ländchens, der Karolineninseln und Tschingtaus. Mit zehn Jahren kannten wir die Einwohnerzahlen und die Flächengröße aller abgetretenen 5 10 15 20 25 30 35 40 5 10 15 20 25 30 4677_1_1_2015_452-481_Kap13.indd 474 17.07.15 12:18 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d s C .C .B uc hn er V er la gs | |
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