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476 Internationale Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg M4 Frankreichs Position nach „Versailles“ Der Historiker Peter Krüger nimmt 1985 eine Einschätzung der französischen Position nach „Versailles“ vor: Das kostete sicher in Frankreich große Überwindung, aber was sonst war sinnvoll, nachdem die klarste Lösung, „1871“ rückgängig zu machen und Deutschland durch die Übertragung eines Teils seines Wirtschaftspotenzials auf Frankreich, die Abtrennung der Rheinlande und Ähnliches mehr tatsächlich zu einer Macht minderen Ranges herabzudrücken, sich nicht hatte durchführen lassen? Es war doch politisch vermessen, einerseits den Versailler Vertrag aufzusetzen, der den Wiederaufstieg Deutschlands nicht strikt unterband, und andererseits anzunehmen, man könne möglicherweise für Jahrzehnte einen derartigen Druck auf das wiedererstarkende Deutschland aufrechterhalten, dass es den Status quo von 1918/19, die darauf gegründeten Friedensbedingungen und eine untergeordnete, seinem Gewicht keineswegs entsprechende internationale Stellung als permanent anerkannte. Ebenso wenig einleuchtend war die Hoffnung auf ein dauerhaft gegen Deutschland gerichtetes Bündnis, also dauerhafte Übereinstimmung der Interessen der Sieger. Es war deshalb nur folgerichtig, dass schon beim Abschluss des Vertrages bestimmte Kreise in Frankreich voller Illusionen darauf hofften, die Bedingungen später noch in ihrem Sinne ausgestalten zu können, während zur gleichen Zeit die Weltkriegsverbündeten der Franzosen, vor allem England und die Vereinigten Staaten, schon die Revision zugunsten der Deutschen als unumgänglich, ja sogar als erwünscht ins Auge fassten. Die Tatsache war also bekannt, dass der Versailler Vertrag eine Art Zwitterstellung einnahm, je nachdem zu hart oder zu wenig durchgreifend ausgefallen war. Wichtig jedoch bleibt, dass er eines immerhin entschied: Frankreich hatte sich nicht voll durchgesetzt, und die nachträglichen Bemühungen, das Versäumte nachzuholen, waren ziemlich aussichtslos; es blieben nur überlegte und begrenzte Revision und Verständigungspolitik im europäischen Rahmen. Das gilt in gleicher Weise für Deutschland, wenn es nicht durch sturen Widerstand zugrunde gehen oder durch allmähliche Vorbereitung von Gewaltlösungen alles aufs Spiel setzen und wieder eine große Koalition gegen sich vereinen wollte. Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 21993, S. 86 1. Skizzieren Sie die unterschiedlichen Optionen, die Krüger für Frankreich und Deutschland darstellt. 2. Erläutern Sie den Begriff „Zwitterstellung“ anhand der Ihnen bekannten Fakten. M5 Streit um die Locarno-Verträge a) Der kommunistische Abgeordnete Wolfgang Bartels kommentiert die Locarno-Verträge am 30. Oktober 1925 im Preußischen Landtag: Wenn man die einzelnen Verträge und ihre Paragrafen durchgeht, so sehen wir, dass Deutschland hinreichend Garantie gibt, aber dafür lediglich die Garantie erhält, dass es Kriegsbütteldienste leisten darf und andererseits Deutschland als Kriegsschauplatz ausliefern muss. Locarno bedeutet in Wirklichkeit – das wird auch in diesem Hause niemand zu bestreiten versuchen – die Auslieferung der Rheinlande, es bedeutet direkt ein Verschenken preußisch-deutschen Gebietes, es bedeutet die Garantie des Einmarschund Durchmarschrechtes durch Deutschland, es bedeutet die Kriegsdienstverpfl ichtung der deutschen Bevölkerung für die Entente gegen Russland, es bedeutet vor allem die Anerkennung der Aufrechterhaltung des Besatzungsregimes, und es bedeutet erneut das Bekenntnis zu dem Versailler Vertrag. Es bedeutet darüber hinaus verschärfte Ausbeutung, verschärfte Entrechtung, Unterdrückung, Elend, Übel, Not. b) Der nationalsozialistische Abgeordnete Gregor Straßer nimmt am 24. November 1925 im Reichstag Stellung: Wir Nationalsozialisten, wir Frontsoldaten und wir Frontoffi ziere […] verzichten nie und nimmer auf Elsass-Lothringen. Wir verzichten nie auf Eupen und Malmedy, auf die Saar und auf unsere Kolonien. Wir verzichten auf Nordschleswig so wenig wie auf Memel und Danzig, wie auf Westpreußen und Oberschlesien. Wir jungen Deutschen kennen unsere großdeutsche Aufgabe, und wir speisen die Brüder in Österreich und in Sudeten-Deutschland nicht mit leeren Worten ab. […] Unser Staat, der […] ein in sich geschlossener geworden ist, wird einst die Verträge von Versailles, London1 und Locarno wie Papierfetzen zerreißen können, weil er sich stützt auf das, was Sie bewusst im deutschen Volke zerschlagen, wofür kein Opfer gebracht werden darf, nämlich auf die Bildung eines in sich geschlossenen Volkes. Erster Text zitiert nach: Herbert Michaelis und Ernst Schraepler (Hrsg.), Ur sachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, Bd. 6, Berlin o. J., S. 396 f. Zweiter Text zitiert nach: Detlef Junker u. a. (Hrsg.), Deutsche Parlamentsdebatten II. 19191939, Frankfurt am Main 1971, S. 180 f. 1. Arbeiten Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Texte hinsichtlich einer „Verzichtspolitik“ heraus. 2. Erläutern Sie die Motive bei den Gegnern der Verträge. 5 10 15 20 25 30 5 10 15 20 25 30 35 1 Gemeint ist die Annahme des Dawes-Plans 1924. 4677_1_1_2015_452-481_Kap13.indd 476 17.07.15 12:18 Nu r z u Pr üf zw ec k n Ei ge nt um d es C .C .B uc hn er V er la gs | |
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