Volltext anzeigen | |
Geschichte kontrovers Geschichte kontrovers 480 Der Versailler Vertrag – Katastrophe oder Chance? Nach der Ende September 1918 von der Obersten Heeresleitung eingestandenen Niederlage des Deutschen Reiches mussten Vertreter der ersten frei und demokratisch gewählten Regierung am 28. Juni 1919 den Versailler Vertrag unterzeichnen. Das Zustandekommen und der Inhalt des Friedensvertrages lösten anhaltende Proteste aus. Die große Mehrheit der Deutschen lehnte den „Schmachfrieden“, wie er damals genannt wurde, ab. Historiker sahen später in dem Vertrag einen Hauptgrund für den Aufstieg des Nationalsozialismus und den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Erst Jahrzehnte nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland hat sich die Geschichtswissenschaft von dieser Interpretation gelöst. M1 „Die führenden Feinde haben ihr Ziel erreicht“ Dietrich Schäfer, ein zu seiner Zeit angesehener Historiker und politischer Schriftsteller, hat Werke über die Geschichte der Hanse ebenso wie über die Kolonialgeschichte veröffentlicht. Seine zweibändige „Geschichte der Deutschen“ erscheint zwischen 1910 und 1932 in zehn Aufl agen. Auch seine zweibändige „Weltgeschichte der Neuzeit“, die erstmals 1901 erscheint und bis 1922 in ständig aktualisierten Aufl agen gedruckt wird, fi ndet vor allem im Bürgertum viele Leser. In der „11. durchgesehenen und bis zur Gegenwart fortgeführten Aufl age“ des Werkes von 1919 beurteilt Schäfer Deutschlands Stellung nach dem Versailler Vertrag so: Der Friede, der dem Kriege ein Ende gemacht hat, ist in der Tat ein anderer geworden als die früheren, so brutal und vernichtend, wie die Weltgeschichte kaum je einen sah. […] Der Friede löscht Deutschland aus der Reihe der Großmächte, ja der selbstständigen Staaten aus. Die Gebietsverluste, die sofortigen und die zunächst noch infrage gestellten, raubten ihm Millionen seiner Bevölkerung, dazu unentbehrliche Bodenschätze. Kernlande, ohne die Preußen nicht bestehen kann, gingen verloren. Millionen deutscher Leute wurden fremder Herrschaft unterworfen. Die Beziehungen zu den Nachbarvölkern wurden nicht geklärt, sondern verwickelt. An weiteren Streitigkeiten wird es nicht fehlen; ihre Entscheidung liegt beim Völkerbunde, dem Deutschland für absehbare Zeiten nicht angehören wird, von dem auch, wenn er Deutschland einmal zugelassen hat, vorbehaltlose Gerechtigkeit für Deutsche nicht zu erwarten ist. […] Deutschlands Verkehr wird der Aufsicht der Gegner unterstellt, unsere eigensten Ströme werden internationalisiert; wir sind nicht mehr Herren im eigenen Hause, viel abhängiger und hilfl oser als einst nach dem Westfälischen Frieden. Dazu kommen neben der schweren Not, die der Krieg an sich verursacht hat, die ungeheuerlichen Ersatzforderungen der Feinde, eine nimmer endende Schraube, die jederzeit nach Belieben angezogen werden kann. […] Unsere Regierenden beteuern, dass sie die eingegangenen Bedingungen ehrlich erfüllen wollen; sie stellen in Aussicht, was sie nicht halten können. […] Die Feinde haben Monate vergehen lassen, ehe es ihnen gefallen hat, den Vertrag zu vollziehen. […] Wo solches möglich ist, da möchte man verzweifelt rufen: „Lasst alle Hoffnung fahren! Deutsches Volk, du hast deine Rolle ausgespielt in der Weltgeschichte! Du verdienst nichts anderes als in Zukunft Sklave stärkerer und einsichtigerer Nationen zu sein.“ […] Die führenden Feinde haben ihr Ziel erreicht. Frankreich steht gegenüber Deutschland mächtiger da als einst unter Ludwig XIV. nach dem Westfälischen Frieden; seine Grenzen sind weiter vorgeschoben als damals. Dietrich Schäfer, Weltgeschichte der Neuzeit, Zweiter Teil: Vom Ende des Siebenjährigen Krieges bis zur Gegenwart, Berlin 111919, S. 445 449 M2 Nüchterne Analyse des Versailler Vertrages Der Historiker Peter Longerich schreibt 1995 über den Versailler Vertrag: Bei einer nüchternen Analyse des Versailler Vertrages hätten jedoch auch die Chancen erkannt werden können, die er im Rahmen der Neuordnung Europas der deutschen Politik bot. Positiv zu verbuchen war, dass trotz erheblicher Gebietsverluste die Reichseinheit erhalten geblieben war, was nach der verheerenden Niederlage keineswegs als selbstverständlich hatte angenommen werden können. Zweitens stand Deutschland nicht mehr der geschlossenen Front der Kriegsgegner gegenüber: Im Gegenteil ergab sich die Chance, die tiefen Gegensätze, die nach der bolschewistischen Revolution zwischen Russland und den westlichen Siegermächten herrschten, zugunsten der deutschen Politik zu nutzen; und nach der Ablehnung der Ratifi zierung des Versailler Vertrages durch das amerikanische Repräsentantenhaus und dem 5 10 15 20 25 30 35 5 10 4677_1_1_2015_452-481_Kap13.indd 480 17.07.15 12:19 N zu P rü fzw ck Ei ge nt um d es C .C .B uc hn er V er la gs | |
![]() « | ![]() » |
» Zur Flash-Version des Livebooks |