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55518.4 Vertiefung: „Vormacht wider Willen“ oder „deutsches Europa“ M10 Jürgen Habermas: Gefahr eines „deutschen Europas“ 5 10 15 20 Die Bundesregierung hat aufgrund ihres ökonomischen Gewichts und der informellen Verhandlungsmacht im Europäischen Rat die deutschen, vom Ordoliberalismus geprägten Vorstellungen zur Krisenbewältigung gegen Widerstände durchgesetzt und die Krisenländer zu einschneidenden „Reformen“ genötigt, ohne sich erkennbar der gesamteuropäischen Verantwortung für die drastischen Folgen zu stellen, die sie mit dieser sozial einseitigen Sparpolitik übernommen hat. In dieser Haltung gegenüber schwächeren Partnern spiegelt sich ein Mentalitätswandel, der seit der geglückten Wiedervereinigung der Westdeutschen mit 17 Millionen Bürgern einer anderen politischen Sozialisation das Bewusstsein nationalstaatlicher Normalität gefördert hat. […] Es ist in unserem nationalen Interesse, nicht wieder in jene, mit der europäischen Einigung endlich überwundene „halbhegemoniale Stellung“ Deutschlands zurückzufallen, die den Weg in zwei Weltkriege geebnet hat. Ohne einen europaweit erkennbaren Politikwechsel werden wir uns den good will von Nachbarn, den wir durch eine hemdsärmelig durchgepaukte Krisenpolitik ziemlich auf die Probe gestellt haben, nicht erhalten. Wir müssen zwar den ersten Schritt zu einer engeren Kooperation tun, aber die Bereitschaft signalisieren, die deutsche Führungsrolle strukturell verzichtbar zu machen und, bei fairem Umgang mit kleineren Staaten, weitere Initiativen im Einverständnis und auf Augenhöhe mit Frankreich zu unternehmen. Jürgen Habermas, „Für ein starkes Europa“ – aber was heißt das?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 59. Jahrgang, Heft 3/2014, S. 88 f. 25 30 35 Jürgen Habermas, deutscher Philosoph und Soziologe Der Philosoph Jürgen Habermas (M9) führt den Gedankengang von Beck fort. Bearbeiter M11 Stephan Bierling: Vormacht wider Willen In seiner Analyse der deutschen Außenpolitik nach der Wiedervereinigung erwähnt Stephan Bierling, dass die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in Griechenland mit Nazisymbolen dargestellt wurde. Eine italienische Zeitung habe im August 2012 vor dem „Vierten Reich“ gewarnt. Bierling kommt in seiner Analyse zu dem Schluss, dass Deutschland wegen seiner Größe und wirtschaftlichen Stärke seine Führungsrolle in Europa annehmen müsse. Er zitiert den polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski: „Ich fürchte die deutsche Macht weniger, als ich die deutsche Untätigkeit zu fürchten beginne. Sie sind Europas unverzichtbare Nation geworden. Sie dürfen nicht versagen, zu führen“. Bearbeiter 5 10 Während die Bundesrepublik also in der westlichen Sicherheitspolitik ihre ohnehin unterproportionale Rolle weiter reduzierte und sich Zurückhaltung auferlegte, verhielt sie sich in der EU und insbesondere in der Euro-Zone aktiver. Hier stieg ihre Macht seit der Wiedervereinigung, insbesondere mit der Finanzund Staatsschuldenkrise im Jahr 2008. Deutschland war der bevölkerungsreichste, wirtschaftlich leistungsfähigste und finanzstärkste Mitgliedstaat. Je mehr sich die Europa-Politik auf ökonomische Fragen verdichtete, desto mehr Verhandlungsmacht und Durchsetzungskraft wuchsen der Bundesrepublik zu. Die unterschiedlichen Rettungspläne für Euro-Krisenstaaten seit dem Frühjahr 2010 zeigten vor allem eines: Gegen und ohne die Bundesrepublik gab es keine Chance für ein Fortbestehen der Eurozone. […] Die Euro-Zone wurde seit 2010 „deutscher“: Nicht weil Berlin zielgerichtet darauf hinarbeitete, sondern weil es aus der Not geboren den Mitgliedern der Währungsunion jene Rezepte 15 20 Stephan Bierling, deutscher Politikwissenschaftler an der Universität Regensburg Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C. C. Bu ch ne r V er la gs | |
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