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Wolfram von Eschenbach Parzival (um 1200 1210) Auszug 2 Parzival verlässt Gurnemanz. Er kommt an den Artushof und schließlich auch zur Gralsburg Munsalwäsche. Anfortas, der Gralskönig, leidet an einer geheimnisvollen Wunde, von der er nur durch eine mitleidsvolle Frage erlöst werden kann. Doch Parzival stellt aus missverstandener Bescheidenheit diese entscheidende Frage nicht. Als er seinen Fehler erkennt, zieht er unstet durch die Lande, bis ihm der Einsiedler Trevrizent hilt . Da sprach Parzival: „Kann man durch ritterliche Taten mit Schild und Lanze irdischen Ruhm und ewige Seligkeit erringen, dann habe ich mich stets darum gemüht. Ich bin keinem Kampf ausgewichen und habe mit wehrhat er Hand um Heldenruhm gestritten. Versteht Gott etwas von Kampt aten, dann müsste er mich zum Gral berufen, damit man mich dort kennenlernen kann. Ich werde keinem Kampf ausweichen!“ Sein frommer Gastgeber aber sprach: „Ihr müsstet Euch dort vor allem in Demut üben und vor eitler Selbstüberhebung hüten! Wie leicht würdet Ihr in jugendlichem Überschwang das Gebot demütiger Selbstbeherrschung übertreten! Doch Hochmut kommt vor dem Fall!“ Nach diesen Worten fl ossen dem Hausherrn die Augen über beim Gedanken daran, was er Parzival nun sagen wollte. Er hob an: „Herr, dort lebt ein König mit Namen Anfortas. Seine herzzerreißende Not, Lohn eitler Selbstüberhebung, sollte euch und mich armen Sünder erbarmen. Seine Jugend, seine Macht und ein Liebesverlangen, das alle Grenzen von Vernunt und Sittsamkeit überschritt, brachten ihm bitteres Leid. Solche Haltung verstößt gegen die Satzungen des Grals! Ritter und Knechte sind verpfl ichtet, sich vor Leichtfertigkeit zu hüten, denn Demut ist mächtiger als Hochmut. […] Ein einziger Mensch gelangte nach Munsalwäsche, ohne dazu berufen zu sein. Er war jedoch ein Tor, und er zog sündenbeladen von dannen. Er versäumte nämlich, den Hausherrn nach der Ursache seines Elends zu fragen, obwohl er ihn deutlich genug leiden sah. Ich will niemanden schelten, aber dass er sich nicht nach dem bejammernswerten Los des Hausherrn erkundigt hat, ist eine Sünde, die er büßen muss, denn niemand lebt so elend wie Anfortas.“ Im Gespräch mit Trevrizent, der sich als sein Onkel zu erkennen gibt, gewinnt Parzival Einsicht in sein Fehlverhalten. Beschämt gesteht er: „Der Ritter, der nach Munsalwäsche kam, das jammervolle Elend sah und dennoch keine Frage stellte, war ich Unglückseliger! Herr, es war mein Vergehen!“ 5 10 15 20 25 Parzivals Ankunft auf der Gralsburg. Abbildung aus der Berner Parzival Handschrift aus dem Jahr 1467 175Literatur als Ausdruck einer Wertegemeinschat wahrnehmen 3670_1_1_2014_156-181_Kap_7.indd 175 07.01.16 14:38 N u r zu P r fz w e c k e n E ig e tu m d e s C .C . B u c h n e V e rl a g s | |
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