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Martin Opitz Carpe diem1 (1624) Ich empfi nde fast ein Grauen, dass ich, Plato2, für und für bin gesessen über dir. Es ist Zeit hinauszuschauen und sich bei den frischen Quellen in dem Grünen zu ergehn. wo die schönen Blumen stehn und die Fischer Netzte stellen! Wozu dienet das Studieren als zu lauter Ungemach! Unterdessen laut die Bach unsers Lebens, das wir führen, ehe wir es inne werden, auf ihr letztes Ende hin; dann kömmt ohne Geist und Sinn dieses alles in die Erden. Holla, Junger, geh und frage, wo der beste Trunk mag sein, nimm den Krug und fülle Wein! Alles Trauren, Leid und Klage, wie wir Menschen täglich haben, eh uns Clotho3 fortgerat , will ich in den süßen Sat , den die Traube gibt, vergraben. 5 10 15 20 Kaufe gleichfalls auch Melonen und vergiss des Zuckers nicht, schaue nur, dass nichts gebricht! Jener mag der Heller4 schonen, der bei seinem Gold und Schätzen tolle sich zu kränken pfl egt und nicht satt zu Bette legt; ich will, weil ich kann, mich letzen5! Bitte meine guten Brüder auf die Musik und ein Glas! Kein Ding schickt sich, dünkt mich6, bass als gut Trank und gute Lieder. Lass ich gleich nicht viel zu erben, ei, so hab ich edlen Wein! Will mit andern lustig sein, muss ich gleich alleine sterben. 10 Zu welcher Erkenntnis gelangt das lyrische Ich in den ersten beiden Strophen? k Arbeite am Text heraus, welche Schlussfolgerung das lyrische Ich aus dieser Erkenntnis zieht. 11 Erkläre, weshalb dieses Gedicht typisch für die Epoche des Barock ist. 12 In einem 2004 unter dem Titel „Der Glanz und der Tod“ erschienenen Spiegel-Artikel heißt es: „Auch wir kennen die angstvolle Ahnung weltumspannender Nichtigkeit und Flüchtigkeit, grundiert von akuter Wirtschaftskrise, nicht enden wollenden Selbstmordattentaten, religiösen Zweifeln, drohenden Klimakatastrophen und den durch zahlreiche Publikationen aktualisierten Erinnerungen an die tödlichen Materialschlachten des 20. Jahrhunderts; und zugleich ist uns jene – auch medienbedingte – Ich-Schwäche vertraut, die hektisch Zufl ucht sucht bei der penetrantesten Schönheits und Körperobsession aller möglichen Porno-, Sexund Wellness-Varianten.“ k Vergleiche Opitz‘ Sicht mit dem hier entworfenen Bild unserer Gesellschaft. 25 30 35 40 1 Carpe diem: ergreife, nütze den Tag 2 Plato: griechischer Philosoph 429 – 347 v. Chr. 3 Clotho: Schicksalsgöttin, die den Lebensfaden spinnt, Lachesis bestimmt dessen Länge, Atropos schneidet ihn ab 4 der Heller: frühere deutsche Geldmünze 5 mich letzten: mich amüsieren 6 dünkt mich: scheint mir Martin Opitz (1597 – 1639) 193Das Lebensgefühl einer Epoche kennenlernen N u r zu P rü fz w e c k e n E ig e n tu m d e s C .C . B u c h n e r V e rl a g s | |
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