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Gotthold Ephraim Lessing Der Besitzer des Bogens (1759) Ein Mann hatte einen trel ichen Bogen von Ebenholz, mit dem er sehr weit und sicher schoss und den er ungemein wert hielt. Einst aber, als er ihn aufmerksam betrachtete, sprach er: „Ein wenig zu plump bist du doch! Alle deine Zierde ist die Glätte. Schade!“ – „Doch dem ist abzuhelfen!“, fi el ihm ein. „Ich will hingehen und den besten Künstler Bilder in den Bogen schnitzen lassen.“ – Er ging hin; und der Künstler schnitzte eine ganze Jagd auf den Bogen; und was hätte sich besser auf einen Bogen geschickt als eine Jagd? Der Mann war voller Freude. „Du verdienest diese Zierraten, mein lieber Bogen!“ Indem will er ihn versuchen; er spannt, und der Bogen – zerbricht. 7 Untersuche den Aufbau der Fabel und erläutere die Moral. Gotthold Ephraim Lessing Über die Wahrheit (1777) Auszug Ein Mann, der Unwahrheit unter entgegengesetzter Überzeugung in guter Absicht ebenso scharfsinnig als bescheiden durchzusetzen sucht, ist unendlich mehr wert als ein Mann, der die beste, edelste Wahrheit aus Vorurteil, mit Verschreiung seiner Gegner, auf alltägliche Weise verteidigt. […] Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Krät e, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz – Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: Wähle! Ich fi ele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein! 8 Erläutere Lessings Auffassung von Wahrheit. k Diskutiert, ob und inwieweit sich seine Ansichten mit den Ideen der Aufklärung vereinbaren lassen. 9 Beschreibe, wie der Mensch nach Lessings Vorstellung sein sollte. 5 10 5 10 Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) ist einer der berühmtesten Schrit steller seiner Zeit. Er macht das Schreiben zu seinem Beruf, ein für die damalige Zeit sehr riskantes Unterfangen. Trotz seines hohen Bekanntheitsgrades hat er kaum Einkünt e und ist auf die Unterstützung von Freunden angewiesen. Lessing macht sich nicht nur als Fabeldichter, sondern vor allem als Theaterschrit steller einen Namen. 215Christian Fürchtegott Gellert N u z u P rü fz w e c k e n E ig e n tu d s C .C . B u c h n e r V e rl a g s | |
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