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2 Zwischenmenschliches – Erzählende Texte analysieren 2.1 Die Gestaltung von Raum und Zeit analysieren 1 Lies die folgende Geschichte und notiere erste Leseeindrücke. Gabriele Wohmann 1 Denk immer an heut nachmittag (1979) „Eine halbe Stunde Fahrt auf der Hinterplattform“, sagte der Vater, „wieder was Schönes zum Drandenken.“ Die Bahn ruckelte durch die dunklen feuchten Gäßchen von Gratte. Spätnachmittags, die Zeit, in der noch einmal alle Frauen ihre Einkaufstaschen zu den Krämern trugen, in die Auslagen der engen Schaufenster starrten und wie im Gebet die Lippen bewegten, während sie die Münzen in ihren klebrigen Portemonnaies zählten. Die letzten Minuten, bevor die Kinder endgültig hinter den schartigen Hausmauern verschwänden, ehe die Männer auf ihren Motorrädern in das Delta der Gassen donnern würden. Das Kind hielt die Messingstange vor der Fensterscheibe fest, aber immer wieder rutschte die glatte Wolle seiner Handschuhe ab. „Wie im Aussichtswagen. Lauter lustige Dinge“, sagte der Vater. „Du kannst immer dran denken: Wie lustig war’s doch, als wir plötzlich bei Wickler im Fenster die Mannequins entdeckten und als der Vater sagte: Schön, wir fahren eine Bahn später. Die hübschen Mannequins, weißt du’s noch?“ „Ja“, sagte das Kind. Sein Knie spürte den Kof er. Die Bahn fuhr jetzt durch eine Straße mit eckigen, unfrisierten Gärtchen, und Gratte sah nur noch wie ein dicker dunkler Pickel aus. Dann Bäume, die meisten noch kahl, eine Bank mit einem Mädchen, das die Fingernägel reinigte, gekrümmte nackte Kiefernstämme in sandigen Kahlschlägen. „Der Wald von Laurich“, sagte der Vater, „er zieht sich bis zu deinem Schulheim. Ihr werdet ihn wahrscheinlich ot zu sehen bekommen, Spiele im Wald veranstalten. Schnitzelversteck und was weiß ich. Räuberspiele, Waldlauf.“ Ein fetter Junge auf dem Fahrrad tauchte auf und hetzte in geringem Abstand hinter der Bahn her. Sein schwitzendes bläuliches Gesicht war vom Ehrgeiz verunstaltet, die farblose dicke Zunge lag schlaf auf der Unterlippe. „Zunge rein“, rief der Vater und lachte. „Ob er‘s schat ? Was meinst du?“ „Ich weiß nicht“, sagte das Kind. „Ach, du Langweiler“, sagte der Vater. Das Kind merkte mit einer geheimen Erregung, daß seine Augen jetzt schon wieder naß wurden; das Fahrrad, der hechelnde schwere Körper und das besessene Gesicht des Jungen schwammen hinter der Scheibe. Mit gekränkter Stimme sagte der Vater: „Und vergiß nicht die Liebe deiner Mutter. Sie ist dein wertvollster Besitz, präge es dir ein. Vergiß nicht, wie lieb sie dich hatte, 5 10 15 20 25 30 1 Texte von Gabriele Wohmann dürfen aus urheberrechtlichen Gründen nur in alter Rechtschreibung abgedruckt werden. Gabriele Wohmann (1932 2015) war eine der bedeutendsten deutschen Nachkriegsautorinnen. 67Zwischenmenschliches – Erzählende Texte analysieren N u r zu P rü fz w c k e n E ig e tu m d e s C .C . B u c h n e r V e rl a g s | |
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