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2.3 Die Gestaltung von Beziehungen und die Bildlichkeit von Texten analysieren Zoë Jenny Die Fähre (1998) Cora packt hastig ihre Windjacke vom Kleiderhaken und eilt nahe der Wand entlang zur Schulhaustreppe, wo sich Hunderte von schreienden und sich schubsenden Kindern wie durch einen Trichter zum Ausgang drängen. Im wilden Durcheinander, den Kopf gesenkt, als erwarte sie Schläge, zwängt sich Cora zwischen den Kindern hindurch auf den Schulhof. Das Geschrei der sich keilenden und Fußtritte austeilenden Schüler hinter sich lassend, nimmt sie mit kleinen schnellen Schritten den Heimweg über die Rheinpromenade. Vor wenigen Tagen hatte man ihre ältere Schwester Lore beerdigt, weil sie, so hatten die Eltern es Cora gegenüber erzählt, eine hohe Mauer hinuntergefallen war und sich beim Sturz das Genick gebrochen hatte. Seither liegen ihre Eltern in schwarze Kleider gehüllt zu Hause auf dem Sofa mit enttäuschtem, abgewandtem Blick. Zweimal am Tag geht die Mutter ans Telefon, um den Kurierdienst anzurufen, der das Essen für Cora bringt. Lore ist damals immer stummer geworden. Jeder Tag schien ihr mit kaltschnäuziger Geste eine neue Falte ins Gesicht zu graben. Einmal war Cora zielstrebig und ohne anzuklopfen in Lores Zimmer getreten, hatte sich ganz nah vor sie hingestellt – sie reichte Lore, die zehn Jahre älter war, bis zum Bauch –, hatte zu ihr hochgeblickt und mit dem ganzen Ernst, den ein siebenjähriges Mädchen aub ringen kann, gefragt, warum sie denn nicht mehr reden wolle. Lore hatte ihren Pullover hochgezogen, über Coras Kopf gestülpt und sie mit beiden Händen fest an sich gedrückt. Cora atmete die heiße Lut unter dem Strickpullover, und durch die Maschen sah sie Lores Notenständer zusammengeklappt an der Wand stehen und die Violine verstaut im blauen Samt des geöf neten Geigenkastens. „Gehst du fort?“, kam Coras überraschte Stimme unter dem Pullover hervor. Aber Lore drückte ihre Hände nur noch fester an Coras Körper, sodass sie in der heißen Lut zu ersticken drohte und sich aus der Umklammerung fortriss. Als man Cora ein paar Tage später schließlich zum Sarg führte, damit sie sich von ihrer Schwester verabschiedete, blickte sie ungläubig und fasziniert auf Lores Kopf, der geschminkt und wie ein Schmuckstück auf ein seidenes Kissen gebettet war. Cora beugte sich über sie und stellte sich vor, wie die Wörter wie Lebewesen in Lores weiß gepudertem Hals steckenbleiben, im Dunkeln ihrer Halsröhre, und nicht weiterkommen aus ihrem Mund hinaus ans Licht. Aber tot war Lore doch deshalb noch lange nicht, und Cora wollte sie schon hinter dem Ohr kitzeln, um eine Reaktion zu provozieren, als ihr aus der Tiefe des Sarges dieser trostlos fremde Geruch entgegenschlug. Sie war entsetzt aus dem Raum gerannt und hatte Mutter die 5 10 15 20 25 30 35 Zoë Jenny wurde 1974 in Basel geboren. Ihr erster Roman „Das Blütenstaubzimmer“ (1997) machte sie zur gefeierten Jungautorin. (P S. 101 f .) 71Zwischenmenschliches – Erzählende Texte analysieren N u r zu P rü fz w e c k e n E ig e n tu m d e s C .C . B u c h n e r V e rl a g s | |
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