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gene Flecken gebildet, dort, wo das Wasser am Holz nagt und es morsch macht. Cora lauscht dem knarrenden Geräusch alten Holzes, während die Strömung die schräggestellte Fähre langsam zögerlich über den Fluss schiebt. Cora beugt sich über die Brüstung, um die Hand ins Wasser zu halten, so wie sie es immer zusammen mit Lore gemacht hatte. Sie hatten sich dabei vorgestellt, Wasserwesen würden sie an der Hand hinabziehen und in ihr unheimliches Reich holen. Lore hatte Geschichten von Fischmenschen erzählt, die unten auf dem Grund des Rheins wohnen, in einer Stadt, gebaut aus Sand und Fischknochen. Aber jetzt schaut Cora stumpf auf ihre Hand, die Kälte des Wassers kriecht den Arm hinauf, und nichts geschieht, sosehr sie sich auch an Lores Worte und die aufgeregte Stimmung von damals zu erinnern versucht. Sie öf net und schließt die Hand, als wolle sie das Wasser fangen. Ruckartig zieht sie die Hand aus dem Wasser und steckt sie beschämt und nass zurück in die Manteltasche. Aus dem Innern der Kabine rut ihr der Fährmann zu: „Komm doch rein, willst du da draußen erfrieren?“ Durch die kleine Schwingtür tritt Cora in die Fährkabine. Zwischen den zwei an der Wand befestigten Holzbänken steht ein kleiner Ofen, und in seinem Innern knackt die Wärme, die sich bis in die Ecken hinein ausgebreitet hat. Der Fährmann sitzt neben dem Ruder vor dem Fenster, von dem aus er den Steg beobachten kann. „Da stehen wieder eine Menge Leute“, sagt er zu sich selbst, holt eine Orange aus der Tiefe seiner Manteltasche, beginnt sie, das Steuerruder unter dem Arm eingeklemmt, zu schälen und die kleinen Schnitze nacheinander in den Mund zu stecken. Die Schalen lässt er auf den Ofen fallen, und Cora schaut zu, wie sie sich in der Hitze zu krümmen beginnen. „Gehst du ganz alleine auf die Messe?“, fragt der Fährmann neugierig. „Nein, Lore wartet drüben. Wir wollen zusammen gehen, wie jedes Jahr.“ „Wer ist Lore?“ „Meine Schwester, wer sonst“, sagte Cora ungeduldig. Der Fährmann nickt, betrachtet von allen Seiten den letzten Orangenschnitz zwischen seinen dicken, kurzen Fingern, bevor er ihn in den Mund steckt. „Vor kurzem hat sich eine junge Frau da runtergestürzt.“ Er zeigt aus dem Fenster auf die alte Pfalzmauer, eine rote, düstere Steinwand. „Ich habe gerade angelegt, da sah ich, wie sie über die Mauer sprang. Der Körper prallte auf, dann war es still, und nichts rührte sich mehr.“ Der Fährmann kreist mit einer Hand über die Brust, als hätte er dort einen lästigen Schmerz wegzuwischen. Nach einer Pause fährt er fort: „Kurz darauf fuhr ein Krankenwagen über die Brücke, die Leute auf der Messe rannten eilig zur Mauer, um von dort zu sehen, was passiert war. Ich sah nur die Reihe nach vorn gebeugter Köpfe, als würden sie über die Mauer in eine Grube schauen. Einige rannten die Treppe hinunter. Es ging alles sehr schnell. Zwei Männer haben die Frau auf einer Bahre unter einer Wolldecke weggetragen, und eine Viertelstunde später waren alle Menschen wieder fort.“ 85 90 95 100 105 110 115 120 73Zwischenmenschliches – Erzählende Texte analysieren N u r zu P rü fz w c k e n E ig e tu m d s C .C . B c h n e r V e rl a g s | |
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