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215Rezeption antiker Staatsformen in der Amerikanischen und der Französischen Revolution M1 Die Amerikanische Revolution und die Antike Der Althistoriker Wilfried Nippel untersucht in seinem Buch „Antike oder moderne Freiheit?“ von 2009 die Schriften der amerikanischen „Verfassungsväter“ John Adams, James Madison und Alexander Hamilton. Sie haben sich zwischen 1787 und 1788 intensiv für die Ratifi zierung der Bundesverfassung eingesetzt und sich dabei auch auf die antiken Staatsformen bezogen. Die Vorstellung von der Mischverfassung1 erfreute sich in unterschiedlichen Versionen großer Beliebtheit, schien sie doch für eine Ordnung zu stehen, die einen Machtmissbrauch verhindere. Die Stoßrichtung dieser Theorie zielte nicht mehr, wie dies zumal bei der Anwendung auf die englische Verfassung in den Konfl ikten des 17. Jahrhunderts der Fall gewesen war, auf die effektive Beschränkung monarchischer Vollmacht, sondern auf die Kontrolle des Mehrheitswillens in der Legislative, das heißt im Parlament. Schließlich hatte man mit der – in den Kolonien als tyrannisch wahrgenommenen – englischen Parlamentssouveränität jene Erfahrungen gemacht, die zur Loslösung vom Mutterland führten. Bei John Adams schloss die Übernahme dieser Theorie insofern an das traditionelle Verständnis an, als er das aristokratische Element in einer Mischverfassung von einer „natürlichen Aristokratie“ der Besitzenden und Gebildeten verkörpert sehen wollte. In einer speziellen Kammer würden sie eine Kontrollfunktion sowohl gegenüber der Regierung wie gegenüber den Abgeordneten des Volkes wahrnehmen; in einem Einkammersystem sich dagegen bei Wahlen durchsetzen und dann rigoros ihre eigenen Interessen vertreten. Das System von „checks and balances“2 in einer freien Regierung könne man auch von modernen Aristokratien wie den Niederlanden, Venedig oder Bern lernen, meinte Adams; die Griechen hätten es nicht gekannt, was zu zahllosen blutigen Bürgerkriegen geführt habe; deshalb könnten sie kein Vorbild für Amerika abgeben. […] In der Geschichte gebe es kein Beispiel für eine einfache und vollkommene Demokratie […]. Vielmehr zeige sich überall die Tendenz, dass bald eine kleine Gruppe dominiere und sich schließlich de facto eine Alleinherrschaft herausbilde, wobei Adams diese antike Lehre später auch durch die Erfahrung mit der Französischen Revolution und der Rolle von Robespierre und schließlich von Napoleon bestätigt sah. Der unmittelbaren Demokratie nach dem Muster Athens wurde im Allgemeinen eine Tendenz zur Tyrannei der Mehrheit unterstellt, die sich über individuelle Freiheitsrechte hinwegsetze und das Privateigentum nicht achte. Die in einem solchen System unvermeidbaren Parteikämpfe schlössen Stabilität notwendig aus; vielmehr hätten die griechischen Republiken ständig zwischen den Extremen von Tyrannei und Anarchie geschwankt. Nach Alexander Hamilton war die Annahme, eine reine Demokratie stelle die beste Regierungsform dar, durch die historische Erfahrung widerlegt: „Die antiken Demokratien, in denen das Volk selbst beratschlagte, besaßen nicht ein einziges Merkmal guter Regierung. Sie waren ihrem Charakter nach Tyranneien und ihrer Form nach Krüppel. Wenn sich das Volk versammelte, befand sich am Ort der Debatte ein zügelloser Mob, der zur Beratung nicht fähig und zu jeder Ungeheuerlichkeit bereit war. Die Feinde des Volkes schürten dort systematisch ihre Pläne. Ihre Feinde in einer anderen Partei traten ihnen entgegen, und es war eine Frage des Zufalls, ob das Volk sich blindlings von dem einen oder anderen Tyrannen führen ließ.“ […] Bei James Madison heißt es: „In allen Versammlungen mit sehr vielen Teilnehmern, aus welcher Art von Menschen sie sich auch zusammensetzen, gelingt es der Leidenschaft doch immer, der Vernunft das Zepter zu entreißen. Wäre auch jeder athenische Bürger ein Sokrates gewesen, so wäre doch immer noch jede Versammlung der Athener eine des Pöbels gewesen.“ Wenn das athenische Volk über effektive Vorkehrungen „zum Schutz vor der Tyrannei seiner eigenen Leidenschaften“ verfügt hätte, wäre es (wie es im Hinblick auf das Schicksal des Sokrates und die angebliche spätere Reue der Athener heißt) dem Vorwurf entgangen, „denselben Bürgern an einem Tag den Schierlingsbecher zu verordnen und ihnen am nächsten Tag Statuen zu weihen“. Weil die Demokratien in der Vergangenheit an der in den Volksversammlungen herrschenden mangelnden Stabilität, Konfusion und Ungerechtigkeit (die sich im Fehlen persönlicher Sicherheit und im mangelnden Respekt vor dem Privateigentum gezeigt habe) zugrunde gegangen seien, gelte es für die Union, eine Verfassung zu schaffen, die ein „republikanisches Heilmittel für die Krankheiten, die republikanische Systeme am meisten befallen“, darstellen müsse – nämlich eine Republik, die im Gegensatz zur reinen Demokratie als Repräsentativsystem einzurichten sei. Wilfried Nippel, Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit, Frankfurt am Main 2008, S. 131 133 (gekürzt und ohne Anmerkungen) 1 Mischverfassung: siehe Anm. 4 auf S. 25 und S. 29 und S. 38 f. 2 „checks and balances“: Siehe S. 184. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75Nu r z ur P üf zw ec k n Ei ge nt u d es C .C . B uc n r V er la gs | |
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