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174 8 Quo vadis, Europa? Herausforderungen und Perspektiven des europäischen Projekts M 11 Warum Europa die Türkei unbedingt braucht Mit brutaler Gewalt unterdrückt die heutige türkische Staatsmacht Opposition, Medien und Andersdenkende. Viele Europäer sehen alle ihre Vorurteile bestätigt. Menschenrechte werden verletzt, die Meinungsfreiheit wird missachtet, Journalisten werden verfolgt, die Rechtsstaatlichkeit wird mit Polizeigewalt getreten. Das alles spricht gegen die Europatauglichkeit der Türkei. Die EU hat momentan so viele andere Sorgen, da würde ein EU-Beitritt der Türkei mehr neue Probleme schaffen als alte lösen. So die scheinbar offensichtliche Logik. Was auf den ersten Blick überzeugend wirkt, verkennt, dass die EU genauso auf die Türkei angewiesen ist, wie die Türkei die EU braucht. Nirgendwo zeigt sich das deutlicher und dramatischer als bei der Flüchtlingskrise der Gegenwart. Ohne den türkischen Puffer wird der Migrationsdruck auf die EU zu stark werden und ohne die Hilfe der EU wird die Türkei die Transitwanderung aus den Nachbarländern nach Europa weder bewältigen können noch verhindern wollen. [...] Die Türkei war und ist für die EU lange schon weit mehr als eine geografische Brücke zwischen Europa und Asien. Beide sind wirtschaftlich eng miteinander verflochten. Die EU ist mit Abstand der wichtigste türkische Handelspartner. Aber Europa erzielt im Handel mit der Türkei einen satten Handelsbilanzüberschuss. So hat Deutschland 2014 für über 19 Milliarden Euro Güter in die Türkei exportiert, aber nur für gut 13 Milliarden Euro türkische Waren importiert. Zudem leben in Europa mehrere Millionen Menschen türkischer Herkunft, der größte Teil in Deutschland. Die in Deutschland wohnenden Menschen mit türkischen Wurzeln werden besonders aufmerksam beobachten, wie Deutschland die TürkeiFrage behandelt. Eine Aussage wie „die Türkei gehört nicht zu Europa“ könnte sehr schnell verstanden werden als „die hierzulande lebenden Türken gehören nicht zu Deutschland“. Vor allem aber ist die Türkei der genuine geopolitische Partner des Westens im Streben nach einer Stabilisierung des Nahen Ostens. Sie ist eine Demokratie mit einer säkularen Verfassung und einer muslimischen Bevölkerung. Ist eine europäische Türkei ökonomisch erfolgreich, kann sie für andere islamische Länder zum Vorbild für Modernisierung und Transformation werden. Wendet sie sich von Europa ab, wird Europa an Ansehen verlieren. Die über Jahre eingefrorenen EU-Beitrittsverhandlungen haben in der Türkei jene konservativen, fundamentalistischen Strömungen gestärkt, die das westliche Wirtschaftssystem ablehnen. Sie hat den kemalistischen Reformkräften geschadet, die sich gegen den islamisch konservativen Übervater Erdogˇan behaupten müssen. [...] Eine Einbindung der Türkei in die europäische Strategie ist auch ein Gewinn für die EU. Denn mit einer europäischen Perspektive kann die Modernisierung der Türkei und die Stabilisierung des Nahen Ostens eher gelingen als ohne. Das hilft nicht nur der Türkei, sondern ebenso der EU. Dramatisch genug, dass es der Flüchtlingskrise der Gegenwart bedurfte, um den Europäern diese einfache Logik in Erinnerung zu rufen. Thomas Straubhaar, Warum Europa die Türkei unbedingt braucht, www.welt.de, 1.12.2015 8.1.3 Kontrovers diskutiert: Gehört die Türkei in die EU? 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 Thomas Straubhaar ist Professor der Universität Hamburg und Direktor des EuropaKolleg Hamburg. Er hat den Lehrstuhl für internationale Wirtschaftsbeziehungen inne und forscht über Themen der Globalisierung und der Europäischen Integration. Nu r z u Pr üf zw ec k n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn r V er la gs | |
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