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86 4 Europäische Wirtschaftsund Sozialpolitik – mehr als nur ein gemeinsamer Markt M 11 Auf dem Weg zum Europäischen Sozialstaat? Möglichkeiten und Grenzen „Nobody can fall in love with the single market“, lautet ein berühmter Satz Jacques Delors’, von 1985 bis 1995 Präsident der [damaligen] EG-Kommission. In der Tat, ein gemeinsamer Markt und eine gemeinsame Währung allein reichen nicht aus, um Menschen für das Integrationsprojekt einzunehmen. Immer wieder ist deshalb emphatisch [= mit Nachdruck] die soziale Dimension der europäischen Integration eingefordert worden, von linken Parteien, Gewerkschaften und globalisierungskritischen Bewegungen, aber auch von vielen Menschen auf der Straße. Zwar hat die EU in der Vergangenheit zahlreiche Maßnahmen zur Bekämpfung regionaler Disparitäten und zur Förderung der Kohäsion aufgelegt, aber nach Meinung vieler nur mit mäßigem Erfolg. Konvergenzprozesse haben allenfalls punktuell stattgefunden, wenige der abgehängten Regionen konnten wirklich aufschließen. Allerdings gaben sich Experten und Politik fast drei Jahrzehnte lang der Illusion hin, man könne durch die vorhandene Strukturund Regionalpolitik das Auseinanderdriften der europäischen Regionen verhindern. […] Mit dem Dreiklang aus Finanz-, Wirtschaftsund Eurokrise hat sich das Bild noch verdüstert. Absackende Mittelschichten, hohe Jugendarbeitslosigkeit, marode Gesundheitswesen, Kapitalabfluss, das Absterben ganzer Wirtschaftszweige, regionale Verödung: Das ist die Wirklichkeit in den Krisenländern Europas. Ein überzeugendes wirtschaftsund sozialpolitisches Modell, das den Anschluss an die ökonomisch starken Regionen und Länder der EU sichern könnte, ist derzeit nicht in Sicht. Doch alle Beteiligten klammern sich an diese Fiktion, um die Legitimationskrise nicht weiter zu verschärfen. Wenn der Markt allein nicht ausreicht und die soziale Integration daher als rettender Anker erscheint, warum geht es dann nicht voran? Zwei kaum zu überwindende Hürden stehen einer Europäisierung der Sozialpolitik im Weg. Zum einen die riesigen Wohlstandsgefälle zwischen den europäischen Mitgliedstaaten, zum anderen die erheblichen Unterschiede in den Architekturen und Traditionen der sozialpolitischen Arrangements. Länder mit einem hohen Lebensstandard und einem ausgebauten Sozialstaat befürchten Einbußen im Hinblick auf das gewohnte Niveau der sozialen Absicherung, wenn sozialpolitische Kompetenzen an Brüssel übertragen werden. Die unterschiedlichen Modelle der Sozialstaatlichkeit lassen zudem einen europaweiten uniformen Ansatz der Kollektivierung von Lebensrisiken kaum zu. Mehr als in jedem anderen Politikfeld machen Pfad abhängigkeiten grundlegende Veränderungen schwer. Wer beispielsweise das Rentensystem und seine Finanzierung ändern 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 In Folge der europäischen Staatsschuldenkrise gelangten die Sozialsysteme einiger EU-Mitgliedstaaten, besonders das Griechenlands, massiv unter Druck. Die massive Kürzung von Sozialleistungen verweist viele Bürgerinnen und Bürger auf die Unterstützung karitativer Einrichtungen – und wirft die Frage nach einem gesamteuropäischen Umverteilungssystem auf. Auf dem Bild erhalten Arme (Rentner) und Obdachlose nach einem NeujahrsEssen Lebensmittel-Spenden, in diesem Fall von der Stadtverwaltung in Athen, Januar 2013. Nu r z u Pr üf zw ec ke Ei ge nt um d es C .C . B uc h er V er la gs | |
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