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161Flucht und Vertreibung der Deutschen von 1945 bis 1949 M1 Flucht nach Westen Weil die sowjetische Armee immer weiter nach Ostpreußen vorrückt und der Vater zum Volkssturm eingezogen wird, fl üchten die Abiturientin M. M., ihre Mutter und ihre Schwester aus der Stadt Lyck/El/k in Richtung Westen. Am 10. Februar 1945 erreichen sie das Frische Haff: Das Eis war brüchig; stellenweise mussten wir uns mühsam durch 25 cm hohes Wasser hindurchschleppen. Mit Stöcken tasteten wir ständig die Fläche vor uns ab. Zahllose Bombentrichter zwangen uns zu Umwegen. Häufi g rutschte man aus und glaubte sich bereits verloren. Die Kleider, völlig durchnässt, ließen nur schwerfällige Bewegungen zu. Aber die Todesangst vertrieb die Frostschauer, die über den Körper jagten. Ich sah Frauen Übermenschliches leisten. Als Treckführerinnen fanden sie instinktiv den sichersten Weg für ihre Wagen. Überall auf der Eisfl äche lag verstreuter Hausrat herum; Verwundete krochen mit bittenden Gebärden zu uns heran, schleppten sich an Stöcken dahin, wurden auf kleinen Schlitten von Kameraden weitergeschoben. Sechs Stunden dauerte unser Weg durch dieses Tal des Todes. Dann hatten wir, zu Tode ermattet, die Frische Nehrung erreicht. In einem winzigen Hühnerstall sanken wir in einen fl üchtigen Schlaf. Unsere Mägen knurrten vor Hunger. Am nächsten Tage liefen wir in Richtung auf Danzig weiter. Unterwegs sahen wir grauenvolle Szenen. Mütter warfen ihre Kinder im Wahnsinn ins Meer, Menschen hängten sich auf; andere stürzten sich auf verendete Pferde, schnitten sich Fleisch heraus, brieten die Stücke über offenem Feuer; Frauen wurden im Wagen entbunden. Jeder dachte nur an sich selbst – niemand konnte den Kranken und Schwachen helfen. Flucht über das Haff nach dem Westen des Reiches, Original vom 9. 11. 1951, zitiert nach: Bundesministerium für Vertriebene (Hrsg.), Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. I/1, Bonn 1954, S. 80 82 (Dokument Nr. 20) 1. Beschreiben Sie die Situation auf dem Frischen Haff im Frühjahr 1945. 2. Erklären Sie auf der Grundlage einer weitergehenden Recherche in Fachbüchern oder im Internet, warum viele Menschen den Fluchtweg über das Frische Haff wählten. Formulieren Sie Ihre Ergebnisse in Form eines Zeitungsartikels und versehen Sie diesen mit einer prägnanten Überschrift. 3. Interpretieren Sie die von der Autorin gewählte Metapher „Tal des Todes“ (Zeile 15). M2 Befehl zur Vertreibung der Deutschen In einem Befehl des Kommandos der 2. Armee der polnischen Streitkräfte1 über die Fortsetzung der raschen Aussiedlung der Deutschen vom 24. Juni 1945 heißt es: Mit den Deutschen verfahren wir, wie sie es mit uns getan haben. Viele haben schon vergessen, wie sie unsere Kinder, Frauen und Alten behandelt haben. Die Tschechen wussten so zu handeln, dass die Deutschen von selbst aus ihrem Gebiet fl ohen. Man muss seine Aufgaben auf so harte und entschiedene Weise ausführen, dass sich das germanische Ungeziefer nicht in den Häusern versteckt, sondern von selbst vor uns fl iehen wird und dann im eigenen Land Gott für die glückliche Rettung seines Kopfes danken wird. Wir vergessen nicht, dass Deutsche immer Deutsche bleiben werden. Bei der Ausführung unserer Aufgabe dürfen wir nicht bitten, sondern müssen befehlen. Der Chef des Stabes der 7. Infanteriedivision hat berichtet, dass die Division im Laufe von zwei Tagen über 40 000 Deutsche ausgesiedelt hat – wofür ich dem Befehlshaber der Division meine Anerkennung ausspreche. 5 10 15 20 25 i Flüchtlingstreck auf dem zugefrorenen Frischen Haff in Ostpreußen. Die Aufnahme entstand vermutlich im Februar 1945. Sie wurde als Standbild in einem Beitrag der „Deutschen Wochenschau“ vom 16. März 1945 verwendet. 1 Die polnische Armee war seit 1943 mit Unterstützung der Sow jetunion wieder aufgebaut worden. 5 10 15 32017_1_1_2016_Kap2_138-203.indd 161 04.05.16 10:39 Nu r z u P üf zw ck en Ei ge nt um d es C .C . B uc hn r V er la gs | |
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