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175„Verschiebebahnhof“ Europa: Kriegsfolgewanderungen M3 Raub der Geschichte Der Journalist Rainer Traub schreibt über die Folgen der „Westverschiebung“ Polens: Bereits Anfang 1945 strömten im Sog der erfolgreichen Großoffensive der Roten Armee die ersten polnischen Siedler in einer „wilden“ Kolonisation spontan in die entvölkerten OderNeiße-Gebiete. Am 23. Mai 1945 übergab die Sowjetunion Polen die Verwaltung der neuen Westgebiete mit einem feierlichen Staatsakt. Der Massentransfer der polnischen Bevölkerung in Verbindung mit der Neubesiedlung des Oder-Neiße-Gebietes war eine Aufgabe von unvorstellbarer Größe. […] Etwa 7,5 Millionen Deutsche, die aus den Oder-Neiße-Gebieten und Südostpreußen verjagt wurden, sollten schnellstmöglich ersetzt werden; Stalin1 wollte vollendete Tatsachen schaffen, bevor seine Westalliierten Gelegenheit hatten, die territorialen Zugeständnisse zu revidieren. Die Neusiedler unterteilten sich in drei heterogene Gruppen: Die „Repatrianten“ beziehungsweise „Umsiedler“ aus der Sowjetunion; die Remigranten aus West-, Mittelund Südosteuropa; schließlich die Umsiedler aus Zentralpolen. […] Die „Sabuschanije“, wie die Umsiedler von „jenseits des Bug“ genannt wurden, durften zwar mehr von ihrem Hab und Gut mit nach Westen nehmen als etwa die aus Ostpreußen vertriebenen Deutschen. Aber da sie ihr Schicksal dem „großen Bruder“ verdankten, galten sie offi ziell als freiwillige Umsiedler und mussten bis zum Untergang des Sowjetimperiums öffentlich über ihr Schicksal schweigen: Sie waren nicht nur ihrer Heimat, sondern auch ihrer Geschichte beraubt worden. Rainer Traub, Raub der Geschichte – Polen als Verlierer unter den Siegermächten, in: Stefan Aust und Stephan Burgdorff (Hrsg.), a. a. O., S. 133 142, hier S. 138 f. 1. Setzen Sie M2 und M3 in Beziehung und erläutern Sie, was unter der „Westverschiebung“ Polens zu verstehen ist. 2. Erklären Sie mithilfe von M2 die Gruppen unter den „Neusiedlern“ (Zeile 15 bis 18). 3. Beurteilen Sie, inwiefern Polen als Kriegsverlierer bezeichnet werden kann. M4 Von der Ukraine nach Niederschlesien In einem Erinnerungsbericht eines Polen, der 1945 als Kind mit seiner Familie aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten nach Niederschlesien „umgesiedelt“ worden ist, heißt es: Ich dachte, dass mit dem Ende des Krieges auch unser langjähriges Leid zu Ende sei, dass der Vater bald nach Hause zurückkehren werde und alles wieder so werde wie in der guten alten Zeit. Leider vergingen die Tage und keiner der Polen kehrte nach Hause zurück. […] Die sowjetischen Behörden eröffneten den Polen: Der Krieg ist zu Ende, ihr Polen müsst nach Polen ausreisen, denn die Gebiete, auf denen ihr zurzeit lebt, gehören nicht mehr euch, sind nicht mehr polnisch. Deshalb hieß es, sich Dokumente zu beschaffen und gen Westen zu fahren. […] Die Reise dauerte sechs Wochen, von Oktober bis Dezember 1945. […] Die Reise war eine wahre Hölle. Den Vorrang bei der Durchfahrt hatten die Transporte, die in östliche Richtung fuhren und die von der Front zurückkehrenden Soldaten und den requirierten deutschen Besitz transportierten. Wir mussten auf Nebengleisen warten, dem Hunger sowie den Überfällen ukrainischer Banden und sowjetischer marodierender Soldaten ausgesetzt. Es war eine Zeit des Chaos und der Gesetzlosigkeit. Was Recht war, bestimmte damals der Stärkere. An der Endstation in Lesna/Waldhöhe bei Lubari Sleski/ Schlesisch Lauban kamen wir Ende November/Anfang Dezember an. […] Wir übernahmen einen kleinen Hof, den uns der Schultheiß angewiesen hatte und auf dem eine deutsche Familie mit drei Generationen wohnte […]. […] Einige Monate lang waren die Deutschen uns gegenüber misstrauisch; sie beobachteten uns aufmerksam und verfolgten jede unserer Bewegungen auf dem Hof. Als der Vater eines Tages aus dem Verschlag Heu für das Vieh holte, stieß er auf ein Versteck, in dem einige Koffer mit verschiedenen Habseligkeiten der Besitzer waren. Er bat den deutschen Bauern in die Scheune und sagte: Hier habe ich eure Sachen gefunden, bitte nehmt sie mit ins Haus und packt sie aus, denn hier verkommen sie. Falls ihr noch etwas versteckt habt, so könnt ihr es ruhig mit ins Haus nehmen. Es gehört euch und von unserer Seite wird euch niemand etwas wegnehmen. Dessen könnt ihr sicher sein. Genauso machten es die Deutschen. Seit diesem Vorfall fassten sie zu uns Vertrauen, das Eis des Misstrauens war gebrochen. Nicht alle Polen verhielten sich gegenüber den Deutschen korrekt. Es gab Fälle, wo Deutsche geschlagen, ausgeraubt und gequält wurden. Diese Polen glaubten, dass sie die Herren seien und dass ihnen alles erlaubt sei, die Deutschen hingegen ihre Untertanen seien. […] 5 10 15 20 25 1 Josef W. Stalin (1878 1953): aus Georgien stammender russischer Revolutionär; ab 1922 Generalsekretär der Kommunistischen Partei. Er errichtete in der Sowjetunion eine totalitäre Herrschaft, die bis zu seinem Tod dauerte. 5 10 15 20 25 30 35 40 32017_1_1_2016_Kap2_138-203.indd 175 04.05.16 10:39 Nu r z u Pr üf zw ck en Ei ge tu m d es C .C . B uc hn r V er la gs | |
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