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267Nationen und Nationalstaatsbildung M1 Sind Nationen naturgegeben? Der britische Historiker Eric Hobsbawm (1917 2012) schreibt im Jahre 1991 zum Thema „Nation“: Wie die meisten ernsthaften Forscher betrachte ich die „Nation“ nicht als eine ursprüngliche oder unveränderliche soziale Einheit. Sie gehört ausschließlich einer bestimmten historisch jungen Epoche an. Sie ist eine gesellschaftliche Einheit nur insofern, als sie sich auf eine bestimmte Form des modernen Territorialstaates bezieht, auf den „Nationalstaat“, und es ist sinnlos, von Nation und Nationalität zu sprechen, wenn diese Beziehung nicht mitgemeint ist. Dass Nationen als eine natürliche, gottgegebene Art der Klassifi zierung von Menschen gelten – als ein […] politisches Geschick –, ist ein Mythos. […] Kurz, aus Gründen der Analyse kommt der Nationalismus vor der Nation. Nicht die Nationen sind es, die Staaten und Nationalismen hervorbringen, sondern umgekehrt. […] [Nationen sind] Doppelphänomene, im Wesentlichen zwar von oben konstruiert, doch nicht richtig zu verstehen, wenn sie nicht auch von unten analysiert werden, das heißt vor dem Hintergrund der Annahmen, Hoffnungen, Bedürfnisse, Sehnsüchte und Interessen der kleinen Leute, die nicht unbedingt national und noch weniger nationalistisch sind. Dieser Blick auf die Nation von unten – das heißt nicht aus dem Blickwinkel der Regierungen und der Wortführer und Aktivisten nationalistischer (oder nicht-nationalistischer) Bewegungen, sondern aus der Sicht normaler Menschen […] ist überaus schwer zu rekonstruieren. […] Vieles liegt noch im Ungewissen, aber über drei Dinge gibt es keinen Zweifel. Erstens bieten offi zielle Ideologien keine Anhaltspunkte für das, was in den Köpfen selbst ihrer loyalsten Bürger oder Anhänger vorgeht. Zweitens haben wir insbesondere keinen Grund zu der Annahme, dass für die meisten Menschen die Identifi kation mit der Nation – sofern sie existiert – alle anderen Identifi kationen, die ein gesellschaftliches Wissen ausmachen, ausschließt oder ihnen immer oder überhaupt überlegen ist. […] Drittens kann eine nationale Identifi kation samt allen ihren Weiterungen sich im Lauf der Zeit, ja selbst innerhalb sehr kurzer Perioden verändern und verlagern. Eric Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, Frankfurt am Main 1991, S. 20 ff. (übersetzt von Udo Rennert) 1. Fassen Sie mit eigenen Worten die zentralen Thesen des Textes stichwortartig zusammen. 2. Erläutern Sie, warum Hobsbawm „Nationen“ nicht als „ursprüngliche“ soziale Einheit sieht. 3. Erörtern Sie, welche Sicht „normale Menschen“ auf eine Nation haben könnten. i „Statue of Liberty.“ Foto nach 2000. Die Freiheitsstatue steht an der Hafeneinfahrt von New York. Sie wurde 1886 fertiggestellt und war ein Geschenk Frankreichs an die USA. p Informieren Sie sich im Internet und/oder in Fachbüchern über die beiden nationalen Symbole für die USA und für das Deutsche Kaiserreich (siehe dazu die Abbildung auf Seite 264). Setzen Sie anschließend die beiden Beispiele in Beziehung zueinander und erläutern Sie die Botschaften, die hier transportiert werden. Gehen Sie dabei auf die Frage ein, welche Vorstellungen, Bedürfnisse oder Wünsche geweckt bzw. befriedigt werden. M2 Die Nation als „vorgestellte“ Gemeinschaft Der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson (1936 2015) vermerkt in seinem 1983 erschienenen Buch „Imagined Communities“ (dt. Titel: „Die Erfi ndung der Nation“): Nationalismustheoretiker sind oft von drei Paradoxa irritiert: 1. Der objektiven Neuheit von Nationen aus dem Blickwinkel des Historikers steht das subjektive Alter in den Augen der Nationalisten gegenüber. 2. Der formalen Universalität von Nationalität als sozio-kulturellem Begriff – in der modernen 5 10 15 20 25 30 35 5 32017_1_1_2016_Kap3_260-357.indd 267 04.05.16 10:44 Nu r z u Pr üf zw ec ke n E g nt u de s C .C . B uc hn er V er la gs | |
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