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279Die deutsche und die polnische Nationalbewegung Zu Teilen lässt sich das Scheitern der Neuordnung Europas aufgrund des Selbstbestimmungsrechts der Nationen darauf zurückführen, dass die europäischen nationalen Bewegungen schon von Anbeginn in bittere Konfl ikte miteinander verstrickt wurden, statt, wie dies weitsichtigere Männer der Linken […] gefordert hatten, gegenüber den überkommenen dynastischen Ordnungen Solidarität zu üben. Ganz im Gegenteil, überall, und namentlich in der Paulskirche, traten sogleich nationalistische Tendenzen und zuweilen gar imperialistische Begehrlichkeiten hervor, die die Achtung vor dem Eigenrecht der anderen Nationen völlig vermissen ließen. Dies erleichterte es den überkommenen Gewalten, die einzelnen Nationalitäten und Nationen gegeneinander auszuspielen. Europa verpasste eine – genauer: die erste – große Gelegenheit, sich unter freiheitlichen Gesichtspunkten eine neue Ordnung zu geben. Wolfgang J. Mommsen, 1848. Die ungewollte Revolution. Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830 1849, Frankfurt am Main 1998, S. 311 ff. 1. Fassen Sie mit eigenen Worten die Argumente zusammen, mit denen der Zusammenhang zwischen Liberalismus und Nationalismus in dem Text dargestellt wird. 2. Informieren Sie sich im Internet und/oder in Fachbüchern über den Begriff „Kulturnation“ (siehe Zeile 4). Schreiben Sie anschließend einen kurzen Lexikonbeitrag zum Begriff. 3. Erörtern Sie, wie Mommsen die Perspektiven der Revolution darstellt und welche Chance seiner Meinung nach 1848/49 verspielt worden ist. M6 1848/49: eine gescheiterte Revolution? Der deutsche Historiker Thomas Nipperdey (1927 1992) schreibt über die Revolution: Es war die Spaltung der bürgerlichen Bewegung in liberalkonstitutionelle und radikale Demokraten, die zu ihrem Scheitern geführt oder doch wesentlich beigetragen hat. Denn das schwächte die Revolution gegenüber den alten Mächten nachhaltig. […] War es der Radikalismus der Radikalen, und vielleicht ihr utopischer Illusionismus, der die möglichen Chancen der Revolution vereitelt hat […] Oder war es die Vorsicht, der obrigkeitliche konservative Traditionalismus der Liberalen, ihre Klassenangst vor Demokratie und sozialer Veränderung, vor der „roten Revolution“, die sie zum Kampf gegen die Linke, zur Kooperation mit den alten Gewalten oder zur Resignation getrieben hat? […] [Die Liberalen] hatten andere Ziele als die Linken und eine andere Strategie; sie trieben eine Politik der Mitte, gegen die Linke gewiss, aber gegen die alten Mächte, den Status quo wie die Gegenrevolution ebenso. Sie waren keine dezidierten Revolutionäre gewesen, sondern Revolutionäre wider Willen; sie machten vor den Thronen Halt; sie wollten die Revolution beenden und in Legalität überführen; die permanente Revolution als Basis ihrer Legitimität und ihrer Macht war ihnen ein Gräuel. […] Die Liberalen wollten Dämme gegen das Chaos bauen, die Revolution begrenzen, gerade weil sie die Ziele, die sie mit der Revolution gemeinsam verfolgten, durchsetzen wollten. Man kann von den Liberalen, von den bürgerlichen Honoratioren, von den Anwälten einer Gesellschaft mittlerer Existenzen, von Eigentümern nicht erwarten, dass sie die sozialen und egalitären demokratischen Normen unserer Gesellschaft des 20. Jahrhunderts verfochten. […] Wie die Freiheit hatte auch die Einheit ihre großen Probleme. Sie stieß mit den europäischen Mächten und dem neuen Nationalismus der Völker zusammen – Grenzen, Minderheiten, neue Großmachtposition […]. Und die Einheitsforderung stieß auf den alten wie den neuen Föderalismus und Partikularismus der deutschen politischen Welt, das Gegeneinander von Einzelstaat und werdendem Gesamtstaat. Sie stieß zudem auf das Problem des deutschen Dualismus: nationale Einheit gab es nicht ohne Österreich, nicht ohne Preußen, aber solange die als Staaten bestanden, stellte sich das Problem der Führung. Und es stellte sich das Problem, wie der deutschen Nationalstaat und der Anspruch der Nation auf Einschluss der Deutschen Österreichs und die Existenz dieses übernationalen Staates zu vereinbaren wären. […] Deutsche Einheit, deutsche Grenzen, deutsche Freiheit und ein Stück sozialer Gerechtigkeit, das waren schon vier Probleme, die gleichzeitig anstanden […] Es ist die Vielzahl der Probleme und ihrer Unlösbarkeiten gewesen, die zum Scheitern der Revolution geführt hat. Man wollte einen Staat gründen und eine Verfassung durchsetzen, beides zugleich, und das angesichts gravierender sozialer Spannungen. Auch in Frankreich, wo die Probleme einfacher waren, und auch in Italien ist die Revolution gescheitert; diese Tatsachen muss jedes Urteil über die deutsche Revolution mitrefl ektieren. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, S. 663 f. und 668 f. 1. Fassen Sie die zentralen Argumente zusammen, mit denen Nipperdey seine Auffassung über das Scheitern der Revolution begründet. 2. Vergleichen Sie die Texte von Mommsen (M5) und von Nipperdey, und arbeiten Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer Argumentation heraus. 3. 1848/49: eine gescheiterte Revolution? Nehmen Sie dazu Stellung. 35 40 45 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 32017_1_1_2016_Kap3_260-357.indd 279 04.05.16 10:44 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt u d es C .C . B uc hn er V er l gs | |
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