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283Der Weg zur Reichsgründung Die italienische Einigungsbewegung: das Risorgimento Zeitlich ging die Einigung Italiens derjenigen von Deutschland voraus, und die deutschen Liberalen haben die Vorgänge in Italien sehr genau beobachtet. Häufi g wurden die Ereignisse in Italien kommentiert und Überlegungen angestellt, ob und wie die italienischen Erfahrungen für Deutschland nutzbar gemacht werden könnten bzw. ob sich Vorbilder ergaben. Vor 1860 bestanden in Italien sehr ausgeprägte regionale Identitäten. Lokale Dialekte herrschten vor, und die hochitalienische Sprache wurde nur von einer kleinen Schicht gesprochen. Die italienische Einigungsbewegung entstand aus zwei unterschiedlichen Quellen. Erstens wurde sie getragen von einer relativ kleinen, aber einfl ussreichen Gruppe von liberalen Bürgern, die meistens aus den großen Städten in Norditalien stammten. Diese wollten einen modernen italienischen Staat mit einer Verfassung und einem Parlament schaffen, lehnten aber fast immer demokratische Ideen ab. Sie wollten das Wahlrecht an ein bestimmtes Einkommen bzw. an Besitz koppeln. Ferner beabsichtigten sie, den Einfl uss der katholischen Kirche zu beschränken und nach dem Vorbild Frankreichs einen säkularen Nationalstaat zu schaffen, in dem Staat und Kirche strikt getrennt sein sollten. Zweitens bestand in Süditalien, wo die Ländereien fast ausschließlich Großgrundbesitzern gehörten, eine Bewegung von kleinen Bauern und armen Landarbeitern, die vor allem Agrarreformen und die Aufteilung der großen Güter forderten. Beide Bewegungen hatten zunächst nur miteinander gemeinsam, dass sie mit den herrschenden Bedingungen unzufrieden waren. 1859 siegten Truppen des Staates Sardinien-Piemont, die von Frankreich unterstützt wurden, in einem Krieg gegen Österreich, das in der Folge die Lombardei abtreten musste. Als Dank hierfür erhielt Frankreich Nizza und Savoyen. Zum Führer der Bewegung im Süden wurde der Republikaner Giuseppe Garibaldi, der in den kommenden Jahrzehnten zum Symbol des italienischen Freiheitskampfes wurde. Im Mai 1860 kehrte er aus dem Exil in den USA zurück und landete mit einer Gruppe von etwa 1 000 bewaffneten Anhängern in Sizilien. Diese Invasion löste große Volksaufstände aus, und innerhalb weniger Monate brach die bisherige staatliche Ordnung in Süditalien zusammen (u M1). Garibaldi nahm schnell Neapel ein, proklamierte aber keine demokratische Revolution, sondern unterstellte sich im Oktober 1861 Viktor Emanuel II., dem König von Sardinien-Piemont (Königshaus Savoyen). Im März 1861 war in Turin die neue italienische Monarchie ausgerufen worden. 1866 beteiligte sich Italien am Krieg zwischen Deutschland und Österreich1 und 1870 besetzten italienische Truppen während des Deutsch-Französischen Krieges den Kirchenstaat, sodass Rom zur neuen italienischen Hauptstadt wurde. Auch wenn bei Volksabstimmungen eine überwältigende Mehrheit für die nationale Einheit stimmte, stellte – anders als in Deutschland – die nationale Bewegung in Norditalien keine Massenbewegung dar, sondern die Liberalen waren sich darüber bewusst, dass sie nicht die Mehrheit der Bevölkerung repräsentierten. Das Wahlrecht wurde sehr stark eingeschränkt, nur 1,9 Prozent der Bevölkerung durfte über die Zusammensetzung des Parlaments abstimmen. Die erheblichen sozialen Probleme waren den Führern der italienischen Parteien bewusst. So bemerkte der konservative Politiker Massimo d’Azeglio zutreffend in einer berühmten Rede vor dem Parlament: „Wir haben Italien geschaffen, jetzt müssen wir Italiener schaffen.“2 Der Weg zur Reichsgründung 1 Zum zweiten Einigungskrieg siehe Seite 285 f. 2 Nach: Eric Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, Bonn 2005, S. 58. 32017_1_1_2016_Kap3_260-357.indd 283 04.05.16 10:44 Nu r z u Pr üf zw ec k n Ei g tu m d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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