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355 M2 Der 4. Jahrestag der DDR Walter Ulbricht, Generalsekretär der SED, hält am 7. Oktober 1953 eine Rede zum vierjährigen Bestehen der DDR: Wir begehen den vierten Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte ist in einem großen Teil Deutschlands der Militarismus mit der Wurzel ausgerottet und die Arbeiterund-Bauern-Macht errichtet worden. Durch die Vernichtung der Kriegsmaschine des faschistischen deutschen Imperialismus und die Befreiung Deutschlands von der faschistischen Knechtschaft durch die heroische Sowjetarmee war es nach 1945 möglich, in einem großen Teil Deutschlands die Wurzeln des Imperialismus zu beseitigen. […] Unter Führung der Arbeiterklasse schlossen sich alle demokratischen Kräfte zusammen, um die Folgen des Hitlerkrieges zu beseitigen. […] In Westdeutschland hingegen wurden mithilfe der amerikanischen, englischen und französischen Besatzungsmächte die Grundlagen des deutschen Imperialismus geschützt und wurde die Macht der Konzernherren, Bankherren und Großagrarier wieder errichtet. Auf Initiative der USA-Regierung und der westdeutschen Monopolherren wurde Deutschland gespalten, um den westlichen Teil Deutschlands in die militärische Hauptbasis der USA in Europa zu verwandeln. Das Ergebnis der westdeutschen Wahlen vom 6. September1 brachte zum Ausdruck, dass es den amerikanischen und den westdeutschen Imperialisten gelungen ist, in Westdeutschland die aggressivsten Revanchepolitiker an die Macht zu bringen, die gewillt sind, im Dienst des USA-Finanzkapitals als Stoßtrupp gegen die Sowjetunion und gegen die volksdemokratischen Staaten in Europa zu kämpfen. Walter Ulbricht, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, in: Ders., Reden und Aufsätze, Bd. 4, Berlin 1958, S. 650 f. 1. Analysieren Sie, welche Art von gemeinsamer Identität Ulbricht hier mit seiner Rede schaffen will. 2. Charakterisieren Sie Ulbrichts Sprache. Untersuchen Sie dazu ausgewählte zentrale „Schlagworte“. 1 Die Wahlen vom 6. September waren von der CSU/CSU gewonnen worden, die daraufhin mit Konrad Adenauer wiederum den Bundeskanzler stellte. u Heinrich August Winkler. Foto von 2012. Der 1938 in Königsberg geborene Historiker lehrte von 1991 bis 2007 an der Berliner Humboldt-Universität. Er setzte sich u. a. mit der Frage des deutschen „Sonderwegs“ auseinander. Die seit den 1960erund 70erJahren dominierende These besagt, dass Deutschland einen „Sonderweg“ in die Moderne beschritten habe, der sich auffällig von dem anderer westund mitteleuropäischen Staaten unterscheide. Die Ausgangsfrage lautet dabei, warum Länder wie Großbritannien und Frankreich die ökonomische und politische Krise um 1930 überstanden, während das Deutsche Reich die Demokratie aufgab und durch eine totalitäre Diktatur ersetzte. Winkler hält an der These vom deutschen „Sonderweg“ auch nach 1945 fest. Er beschreibt die späte Entwicklung Deutschlands zu Nationalstaat und Demokratie als „langen Weg nach Westen“, der erst mit der Wiedervereinigung 1990 zum Abschluss gekommen sei. Unter Historikern ist die „Sonderwegsthese“ heute allerdings umstritten. Kritiker heben hervor, dass es den „einen“ Weg zur Demokratie auch im Westen niemals gegeben habe, sondern dass sehr viele unterschiedliche Entwicklungsstränge seit dem 19. Jahrhundert zur Entstehung parlamentarischer Staaten geführt hätten. M3 Sonderwege? Der Historiker Heinrich August Winkler befasst sich mit der „Identität“ der DDR: Die DDR hatte sich in den frühen Siebzigerjahren vom Bekenntnis zur einen deutschen Nation gelöst und die Theorie von den zwei deutschen Nationen, der neuen sozialistischen und der alten kapitalistischen, verkündet. Die Deutsche Demokratische Republik war unter den Mitgliedsländern des Warschauer Paktes der Ideologiestaat schlechthin: ein Staat ohne nationale Identität und darum mehr als alle anderen auf den „proletarischen Internationalismus“ als Ersatzidentität angewiesen. Beide deutsche Staaten beschritten also Sonderwege: die DDR einen „internationalistischen“, die Bundesrepublik einen „postnationalen“. Der erste Sonderweg war eine bloße Parteidoktrin; der zweite entwickelte sich zu einem Lebensgefühl. 5 10 15 20 25 5 10 32017_1_1_2016_Kap3_260-357.indd 355 04.05.16 10:46 Nu r z u P üf zw ec ke n Ei ge n um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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