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Das endete mit der Zerstörung alter deutscher Städte, mit dem Verlust der Heimat und mit der Zerstörung alter deutscher Minderheiten in Südostund Osteuropa. Dieser Selbstzerstörung kann man allerdings nicht gedenken, indem man bei 1944 beginnt. Das muss früher beginnen. […] […] Wenn man das Thema der Vertreibung national erinnern will, dann geht es nicht um eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die Vertriebenen, sondern dann muss es ein Projekt sein, das die deutsche Selbstzerstörung thematisiert. Wenn man beim Aspekt „gegen die Vertreibung“ ansetzen will, dann muss das in einem europäischen Kontext stehen, darf es also kein nationales Projekt sein. Denn sonst besteht der begründete Verdacht, dass es letztlich auf das Umschreiben von Geschichte hinausläuft, also eine Täter-Opfer-Verkehrung. „Was haben wir uns angetan?“ Interview der ZEIT mit Außenminister Joschka Fischer vom 28. 8. 2003, zitiert nach: www.zeit.de/2003/36/Fischer/ (Zugriff: 4. März 2014) M3 Im Fremden zuhause Der Journalist Norbert F. Plötzl schreibt 2011 über die Ausgrenzung der Flüchtlinge und Vertriebenen im Westen: Als Millionen Vertriebene und Flüchtlinge aus den Siedlungsgebieten im Osten verjagt wurden und in das zerstörte RestDeutschland drängten, waren sie für die meisten Einheimischen keine Landsleute mehr, sondern unerwünschte Fremdlinge. Sie wurden als „Polacken“ beschimpft, obwohl sie gerade wegen ihres Deutschseins aus der angestammten Heimat ausgewiesen worden waren. Vertriebenensiedlungen wurden als „Neukorea“ oder „Bolschewikien“ verspottet. […] Für die Alteingesessenen waren sie bestenfalls Exoten. Die Neuankömmlinge brachten die hergebrachten Sitten und Strukturen durcheinander. Plötzlich wurden bislang rein evangelische Landstriche von katholischen Schlesiern und Sudetendeutschen bevölkert oder katholische Gegenden von protestantischen Pommern und Ostpreußen durchmischt. […] Sie hatten sich nicht aussuchen können, wohin sie kamen. Die Alliierten hatten sich auf bestimmte Kontingente für ihre Besatzungszonen geeinigt und brachten die Vertriebenen dort unter, wo noch Kapazitäten vorhanden schienen. […] Nicht nur der schon an der NS-„Volksforschung“ beteiligte Vertriebenensoziologe Max Hildebert Boehm beklagte diese „vollkommene Zerstückelung, Zerstreuung und Zerstörung der ostdeutschen Volkstumsgruppen“. Auch ein Linker wie Günter Grass erklärte, man habe „die ostdeutschen Provinzen zweimal verloren“: zuerst territorial als Ergebnis des selbstverschuldeten Weltkrieges, dann aber auch kulturell durch die selbstverschuldeten Fehler der Nachkriegszeit. Man hätte, meint Grass, die Flüchtlinge nach 1945 zwar nicht in isolierten, aber doch „geschlossenen Wohngebieten“ ansiedeln sollen, „um so das gemeinsame Geisteserbe“ Ostdeutschlands bewahren zu können – nicht zuletzt die unterdessen „praktisch verlorenen Dialekte“; immerhin sei zum Beispiel Schlesisch „die Wiege der deutschen Barockliteratur“ gewesen. Grass: „Es ist auch ein Stück Kultur verloren gegangen, und zwar unwiederbringlich.“ Norbert F. Plötzl, Hitlers letzte Opfer, in: Annette Großbongardt, Uwe Klußmann und Norbert F. Pötzl (Hrsg.), Die Deutschen im Osten Europas. Eroberer, Siedler, Vertriebene, Bonn 2011, S. 235 247, hier S. 235 240 M4 Die Bundesrepublik als „Opfergesellschaft“? Der Historiker K. Erik Franzen schreibt 2003 zum neueren „Opferdiskurs“ in der Bundesrepublik: Opfer stellen Forderungen. Die Wiederkehr des Opferdiskurses der fünfziger Jahre im neo-nationalen Gewand wird jedoch in der politischen Ausrichtung anders instrumentalisiert: Die öffentliche Debatte dient heute nicht mehr zur innenpolitischen Stabilisierung der frühen Nachkriegsgesellschaft, für die der Integrationsprozess von Einheimischen und Neuhinzugekommenen auf vielen Ebenen ein ernsthaftes Problem – und eben keine einfache Erfolgsgeschichte – darstellte. Heute ist der Vertriebenendiskurs vielmehr außenpolitisch konnotiert, wie die kontroversen Diskussionen um den EU-Beitritt Polens und Tschechiens belegen: Ein neues Deutschland in der Mitte eines neuen Europa ringt mit seinem zunehmend extrovertiert zur Schau getragenen neuen Selbstbewusstsein. […] Die Gefahr der momentanen Debatte liegt darin, dass sich das Diskursklima in der Bundesrepublik von diesem einseitigen „Charme des Opferstatus“ [Samuel Salzborn] beeindrucken und beeinfl ussen lässt und daraus eine Verschiebung der Erinnerungshaltung resultiert. „Neben die dominante Erinnerung an den Holocaust tritt eine Erinnerung an die Leiden der Deutschen, an die Vertreibung und die Opfer, die das deutsche Volk hat bringen müssen. […] Es gibt Anzeichen dafür, dass die Bundesrepublik mehr und mehr als Opfergesellschaft konzipiert wird und sich somit moralisch einreiht in die Gesellschaften, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft gelitten haben.“ [Harald Welzer] K. Erik Franzen, In der neuen Mitte der Erinnerung. Anmerkungen zur Funktion eines Opferdiskurses, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 51. 2003, H. 1, S. 49 53, hier S. 52 35 40 45 5 10 15 20 25 30 35 5 10 15 20 25 481 32017_1_1_2016_Kap5_470-496.indd 481 04.05.16 10:51 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn r V er ag s | |
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