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71Demokratie und Diktatur in der Zwischenkriegszeit Grenze zwischen Österreich und dem SHS-Staat (dem späteren Jugoslawien) lieferten sich Verbände von Freiwilligen Gefechte. Nationale Demonstrationen sollten zudem die Vertreter der Entente beeindrucken, die die Abstimmungen organisierten bzw. beobachteten. Im hier verfolgten Zusammenhang ist aber ein anderer Umstand wichtig, der erst seit wenigen Jahren intensiv von Historikern erforscht wird. Die Abstimmungen schufen einen Zwang zur Eindeutigkeit, das heißt, eine Person musste sich für einen bestimmten Staat entscheiden. Viele Menschen wollten genau diese Entscheidung aber gar nicht treffen. Dies zeigen einige Beispiele: Im Abstimmungsgebiet in Ostpreußen lebten viele polnische Muttersprachler, die sich selbst als „Staropruski“ (dt: „alte Preußen“) bezeichneten. Diese waren allerdings konservative und lutherische Protestanten, und sie wollten auf keinen Fall in einem katholischen polnischen Staat leben. Deshalb stimmten sie mit einer Mehrheit von 99 Prozent für den Verbleib bei Deutschland. Religion war für diese Menschen viel wichtiger als die Sprache oder als die Nationalität. Bei den Gemeindewahlen in Oberschlesien 1919 hatten etwa 60 Prozent der Wähler für „polnische“ Kandidaten gestimmt. Die polnische Seite war deshalb sicher, dass sie auch die Volksabstimmung für sich entscheiden würde, bei der es um die staatliche Zugehörigkeit der Provinz ging. Diese Rechnung ging allerdings 1921 nicht auf, hier stimmten etwa 60 Prozent (707 393 Stimmen) für Deutschland, 40 Prozent (479 365 Stimmen) für Polen. In der Folge wurde die Provinz geteilt: Die Entente teilte die östlichen Regionen, in denen die meisten Industriestädte lagen, Polen zu, während der Rest bei Deutschland blieb. Da die Abstimmung geheim war, kennen wir die genauen Gründe für das Abstimmungsverhalten nicht, aber offensichtlich war für viele polnischsprachige Personen – möglicherweise aus wirtschaftlichen Gründen – das Deutsche Reich attraktiver als der neue, aber noch ganz ungefestigte polnische Nationalstaat. Offensichtlich hatten bei der Gemeindewahl zwei Jahre zuvor regionale Gründe den Ausschlag für die Stimmabgabe gegeben, die nationale Frage hatte hierbei keine Rolle gespielt. Etwas wurde das Ergebnis auch zugunsten Deutschlands verzerrt, weil alle, die in Oberschlesien geboren waren, aber nicht mehr dort lebten, ebenfalls wahlberechtigt waren, aber dies hatte insgesamt nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Bei einer großen Volkszählung sollte 1931 in Polen die Nationalität aller Bewohner erfasst werden. Polesien (eine Region in Ostpolen) wurde von Polen, Litauern, Ukrainern, Weißrussen und Juden bewohnt. Allerdings weigerten sich hier bis zu 60 Prozent der Menschen, sich in eine sprachliche, nationale oder gar „ethnische“ Schublade stecken zu lassen, und sie gaben ihre Nationalität mit dem Wort „hiesige“ an. Diese Beispiele zeigen, dass Identitäten komplex konstruiert sind und sich keineswegs auf das rein „nationale“ reduzieren lassen. Häufi g verlief der Riss durch ganze Familien: Beispielsweise gab der Vater „polnisch“ an, die Mutter „ukrainisch“, während die (erwachsenen) Kinder sich anderen Nationalitäten zuordneten (u M5). Die polnische Außenpolitik in den 1920erund 30er-Jahren Wenig überraschend orientierte sich die polnische Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit nach Frankreich, das der wichtigste und zuverlässigste Verbündete war. Nach dem Ende der Grenzkriege war das neue Land zu einer aktiven Außenpolitik aber kaum in der Lage, weil die innere Konsolidierung Vorrang hatte. Zugleich war aber auch die außenpolitische Bedrohung i Minderheiten in Polen. Nach der polnischen Volkszählung von 1931. Bitte berücksichtigen Sie bei dieser Tabelle, dass diese offi ziellen Zahlen nur ungefähre Anhaltspunkte bieten, eben weil die Bewohner nur eine einzige Angabe machen durften. Gesamtbevölkerung 37,107 Mio. = 100 Prozent Polen 20,644 Mio. = 64,66 Prozent Ukrainer 5,114 Mio. = 15,99 Prozent Juden 3,114 Mio. = 9,75 Prozent Weißrussen 1,954 Mio. = 6,01 Prozent Deutsche 0,78 Mio. = 2,44 Prozent Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C .B uc n V e la gs | |
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