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M1 Die erste evangelische Ordnung Der Rat der Stadt Wittenberg beschließt, beeinfl usst von evangelischen Predigern, im Januar 1522 die erste evangelische Gemeindeordnung. Sie wird im Druck verbreitet und dient als Vorbild für andere Ordnungen, unter anderem in der Einrichtung eines „Gemeinen Kastens“ zur Armenfürsorge: Erstlich ist einhelliglich beschlossen, dass der Zehnte1 der Gotteshäuser, Priesterschaft und bestimmter Gewerbe in einen gemeinen Kasten2 gelegt wird. Dazu sind verordnet zwei des Rats, zwei von der Gemeinde, und ein Schreiber, die den Zehnten einnehmen, verwalten und damit arme Leute versorgen. […] Es sollen auch keine Bettler in unserer Stadt gelitten werden, die altersoder krankheitshalber zu arbeiten nicht geschickt sind, sondern man soll diese zur Arbeit treiben oder aus der Stadt verweisen. Wer aber ohne Schuld wegen Krankheit oder sonst in Armut ist, soll aus dem gemeinen Kasten durch die Verordneten in ziemlicher Weise versorgt werden. [Bettelverbot auch für Mönche und auswärtige Schüler] Aus dem gemeinen Kasten soll man auch die armen Handwerksleut beleihen, die ihr Handwerk nicht kontinuierlich ausüben können, damit sie einen Lebensunterhalt haben. Sie sollen aber zur festgelegten Zeit das Geld ohne Zins zurückzahlen, wenn sie dazu in der Lage sind. [Unterstützung aus dem gemeinen Kasten auch für Waisen und Kinder armer Leute] Wenn aber die Einkünfte zu solchen guten Werken nicht genügen, so soll jeder, er sei Priester oder Bürger, nach Vermögen jährlich eine Summe Geldes zur Armenfürsorge geben. Da der Zehnte der Priester, die wir jetzt haben, auch in den gemeinen Kasten geht, soll jeder, nachdem er bisher acht Gulden jährlich für seine Vigilien3 erhalten hat, mit sechs Gulden auskommen. Weil Messen und Vigilien abgebaut werden, sollen die Priester stattdessen arme, kranke Menschen besuchen und trösten, doch sollen sie niemand zu einem Testament veranlassen. Die Bilder und Altäre in den Kirchen sollen weggeschafft werden, damit Abgötterei vermieden wird, denn drei Altäre ohne Bilder sind genug. Die Messe soll so gehalten werden, wie sie Christus beim Abendmahl eingesetzt hat [Hinweise zum Ablauf]. Es mag auch der Kommunikant die konsekrierten Hostien4 in die Hand nehmen und selbst in den Mund schieben, ebenso den Kelch nehmen und daraus trinken. Es ist künftig auch nicht gestattet, dass unehrliche Personen5 sich in der Stadt aufhalten, vielmehr sollen sie heiraten. Wollen sie das nicht tun, wenn sie eine Wohnung haben, soll man sie vertreiben. Wohnen sie zur Untermiete, soll der Vermieter bestraft und sie selbst aus der Stadt vertrieben werden. Sofern Mitbürger und Bewohner der Stadt fünf oder sechs Prozent Zinsen bezahlen, aber ohne Vermögen sind, lösen wir den Kredit aus dem gemeinen Kasten ab, sodass sie dem gemeinen Kasten nur noch vier Prozent Zins zu zahlen haben, bis sie den Kredit ablösen. Auch soll man insbesondere darauf achten, dass man armer Leute Kinder, nämlich Knaben, die zur Schule und zum Studium geeignet sind, sich dies aber nicht leisten können, unterstützt, damit man jederzeit gelehrte Leute hat, die das Evangelium und die Schrift predigen, und damit auch in den weltlichen Behörden an geschickten Leuten kein Mangel ist. Die nicht Geeigneten soll man zum Handwerk oder zur Arbeit anhalten, denn dort braucht man sie. Zitiert nach: Ulrich Köpf (Hrsg.), Reformationszeit 1495 1555, Stuttgart 2001, S. 200 203 (sprachlich normalisiert) 1. Gliedern Sie die Regelungen der Ordnung nach Bereichen. Wo liegen die Schwerpunkte? 2. Die jüngere reformationsgeschichtliche Forschung spricht von einer neuen „christlichen Heilsgemeinschaft“, die durch die evangelische Bewegung in den Gemeinden entstand. Überprüfen Sie die Tragfähigkeit dieses Begriffes anhand der Ordnung. 3. Verfassen Sie eine Erwiderungsschrift vonseiten eines Vertreters der römischen Kirche. 1 Zehnt: zehnprozentige Steuer (Geld oder Naturalien) 2 hier: gemeinsame Kasse 3 Vigil: Feier zur Vorbereitung auf ein kirchliches Fest 4 konsekrierte Hostien: geweihte (in ihrem Wesen gewandelte) Hostien, d. h. Abendmahlsbrote 5 unehrliche Personen: Henker, Abdecker, Totengräber, Nachtwächter, Chirurgen, Schäfer, Prostituierte oder Bettler, vgl. dazu auch Seite 67 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 111 Reformation, Konfessionalisierung und Staatsbildung Nu r z u P üf zw ck en Ei ge nt um d es C .C .B uc hn r V er la gs | |
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